Seelenqual: Peter Nachtigalls zweiter Fall (German Edition)
Wohnungstür.
»Hallo?«, rief er von der Schwelle aus und reckte den Kopf so weit wie möglich in die Wohnung vor.
»Ja, ja. Kommen Sie nur rein. Ich bin in der Küche!«
Als er durch die Tür trat, saß sie bereits auf einem stabilen Stuhl, einen Rollator neben sich und bedeutete dem Besucher ebenfalls am Tisch Platz zu nehmen. Luise Markwart wog mindestens einhundertfünfzig Kilo, schätzte er. Die Kittelschürze war zu eng, der Stoff zwischen den Knöpfen so gespannt, dass er den Blick auf weiße, unruhige Haut freigab. Ihre dicken Beine endeten in weichen Plüschschuhen, die sie oben aufgeschnitten hatte, damit die Füße überhaupt Platz darin fanden. Ihre nackten Unterarme hatten einen enormen Umfang, die Gelenke der Finger verschwanden in Grübchen.
»Ich verlasse meine Wohnung nicht mehr. Die Beine machen Ärger. Im Alter kommen halt die Zipperlein.«
»Tja. Wir werden alle älter, das bleibt keinem erspart«, was sollte er auch sonst darauf antworten?
Sie öffnete eine kleine Schachtel Pralinen und bot sie ihm an. Dankend lehnte er mit der Begründung ab, er vertrüge keine Schokolade.
»Ach, wie schade. Dabei ist Schokolade so wichtig für eine ausgeglichene Stimmung«, belehrte sie ihn.
»Frau Markwart, sie kannten doch sicher das junge Mädchen, das ermordet wurde. Friederike Petzold.«
»Wer kannte die nicht! So ein verlottertes Flittchen.«
»Wir haben gehört, dass sie eine wilde Party gefeiert hat in der Nacht bevor sie ermordet wurde.«
»Na, das war doch Dauerzustand bei ihr. Da löste eine Party die andere ab. Die Mieter in der Nummer acht waren wirklich zu bedauern. Erst mussten sie den Lärm ertragen, dann konnten sie auch noch den Dreck wegputzen. Wissen Sie«, sie beugte sich verschwörerisch zu ihm hinüber, »die hat es nicht einmal nötig gehabt ihren Müll richtig zu entsorgen. Und die Mülltüten waren oft voller Kondome! Ekelhaft! Auch die leeren Flaschen hat die einfach rausgestellt und gewartet, ob sie nicht selbst in den Container hopsen würden! Aber der Herr Engel hat das oft für sie übernommen. Na ja – ein alter Mann eben, die sind doch alle gleich! Kaum zieht da ein junges Mädel ein, schon spielen die Hormone verrückt. Also, der Engel hat dann die Flaschen in den Glasmüll gebracht und sogar sortiert! Aber die Frau Junghans hat ihm deswegen die Leviten gelesen, das können Sie mir glauben. Schließlich macht es nicht viel Sinn sich bei der Verwaltung zu beschweren und wenn dann der Sachbearbeiter kommt, sind die Flaschen alle weg und das Treppenhaus gefegt! Und die Typen, die da gekommen sind – unglaublich!«, zum Trost schob sie sich eine Praline in den Mund. »Diese obdachlosen Jugendlichen aus dem Park, Schlägertypen und verdorbene Mädchen in Fetzen und mit grünen Haaren!« Ihr gewaltiger Busen wogte vor Entrüstung und sie keuchte. Michael Wiener begann sich ernsthaft Sorgen zu machen.
»Wenn Ihnen unser Gespräch zu anstrengend wird, kann ich auch später wiederkommen«, bot er an.
»Ach wo. Das kommt vom Alter. Und ich unterhalte mich doch gerne! Leider bekomme ich nicht mehr viel Besuch. Nur der Pflegedienst sieht zweimal am Tag nach mir. Ja, ja. Da zieht man die Kinder groß und wenn man dann alt ist, sind sie in alle Winde verstreut und kümmern sich nicht um ihre gebrechliche Mutter.«
Als gebrechlich hätte er die Frau sicher nicht beschrieben, aber sie schien sich so zu sehen und er hielt es für klüger nicht zu widersprechen.
»Haben Sie auch mal die Mutter des Mädchens gesehen?«, führte er sie wieder zum Thema zurück und begierig all ihre Informationen weiterzugeben, ließ sie sich auch bereitwillig darauf ein.
»Ja. Drei-, viermal vielleicht. Eine kleine blonde Frau, wirkte immer ein bisschen gehetzt auf mich. Aber die machte einen ganz normalen Eindruck, sah also nicht so verkommen aus wie die Tochter. Aber sie blieb nie lange. Ich glaube nicht einmal, dass das Gör sie in die Wohnung gelassen hat. Kaum fünf Minuten, dann war die Mutter wieder draußen.«
»Und sonst? Kam vielleicht jemand regelmäßig vorbei?«
Sie zwinkerte ihm amüsiert zu.
»Aber klar. Ein junger Mann. Der hatte üppiges, dunkles Haar und trug diese komischen Hosen, die heute so in Mode sind. Sie wissen schon, die so aussehen, als würden sie im nächsten Moment zu Boden rutschen, bei denen der Schritt auf Kniehöhe baumelt.«
»Baggyhosen«, nickte Wiener.
»Ja, dann heißen die vielleicht so. Der kam ziemlich lange zu ihr. Manchmal sogar mehrmals am Tag!
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