Seelenriss: Thriller
sich seelenruhig die Vorderpfote.
Bei dem Gedanken daran, dass es draußen in der Welt möglicherweise jemanden gab, der ihr nur zum Spaß schlaflose Nächte bereitete, überkam Lena ohnmächtige Wut. Mit leerem Blick starrte sie zum Küchenfenster hinaus in den kargen Innenhof und rieb sich die pochenden Schläfen. Ihr ständiges Grübeln trieb sie noch in den Wahnsinn, lieferte ihr aber zumindest eine Erklärung für ihre wiederkehrenden Kopfschmerzen in letzter Zeit. Lena spülte eine Aspirintablette mit einem Glas Wasser herunter und entschied, den restlichen Abend mit einem guten Buch auf dem Sofa zu verbringen. Sie nahm eine eisgekühlte Cola aus dem Gefrierfach und erstarrte plötzlich mitten in der Bewegung: Das darf doch nicht wahr sein! Sie traute ihren Augen kaum, als sie Lukas eng umschlungen mit einer rothaarigen Bohnenstange über den Hof laufen sah. Erst gestern Abend nach dem Kino hatte sie sich noch mit einem innigen Kuss vor ihrer Wohnungstür von ihm verabschiedet.
Blitzschnell ging Lena in Deckung und spähte den beiden hinterher. Lukas trug ausgelatschte Chucks, eine knielange Army-Hose und dasselbe T-Shirt, das er gestern schon angehabt hatte. Seine blonden Haare waren zerzaust, was ganz bestimmt nicht davon kam, dass er den ganzen Tag vor dem Computer gesessen hatte. Die Rothaarige schmiegte sich an ihn wie ein Kätzchen und sah in ihren Highheels und dem kurzem Rock so aus, als käme sie geradewegs vom Laufsteg der Berliner Fashion Week. Die beiden wirkten vertraut. Viel zu vertraut, fand Lena und spürte, wie ihr der Anblick einen Stich versetzte. Wie hatte sie nur so naiv sein können, sich einzubilden, dass sich zwischen Lukas und ihr etwas anbahnen könnte!
Lena biss sich auf die Unterlippe und schüttelte verärgert den Kopf über sich selbst, als die beiden auf die Straße hinaus verschwanden. Noch während sie darüber nachdachte, dass sie künftig wohl verstohlen aus ihrer Wohnung schleichen und mit Lukas nie wieder mehr als unverfänglichen Small Talk an der Tür halten könnte, schlug ihr iPhone auf dem Küchentisch Alarm. Ein Blick auf das Display verriet, dass es sich bei dem Anrufer um Wulf Belling handelte.
Belling war ein Polizist älteren Kalibers, den sie bei den Ermittlungen zum letzten Fall kennengelernt hatte. Obwohl Belling wegen, wie er sagte, vollkommen haltloser Gründe vorzeitig pensioniert worden war, hatte auch ihm der »Stümmler« keine Ruhe gelassen, und mit vereinten Kräften war es ihnen gelungen, dem Killer auf die Spur zu kommen. Im Laufe der Ermittlungen waren sie ein eingeschworenes Team geworden, das es fortan nur noch im Doppelpack gab. Lena hatte Volker Drescher, dem Leiter der Berliner Mordkommission, keine andere Wahl gelassen, als Wulf Belling wieder einzustellen. Es war das mindeste, was Lena für Belling hatte tun können – immerhin hatte sie ihm ihr Leben zu verdanken.
Es war Belling gewesen, der im Keller einer Galerie unter Einsatz seines eigenen Lebens auf den alles entscheidenden Hinweis gestoßen war, der das Team von Volker Drescher dann in buchstäblich letzter Sekunde zur Werkstatt des Psychopathen geführt hatte. Doch Lena schätzte nicht nur Bellings Kompetenz als Kriminalist, sondern auch sein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen. Wenn es auf dieser Welt jemanden gab, dem sie blind vertraute, dann war es Belling. Ihr Kollege kannte ihre dunkle Vergangenheit, wusste Bescheid über ihre Zwillingsschwester Tamara, die auf die schiefe Bahn geraten war, und auch darüber, dass Lena zwei Jahre ihres Lebens wegen eines Verbrechens, das sie nicht begangen hatte, im Gefängnis gesessen hatte. Zudem war er einer der wenigen Menschen, denen sie von dem schrecklichen Tod ihrer Eltern sowie von ihrer Kindheit in verschiedenen Pflegefamilien erzählt hatte. Durch diese traumatischen Erlebnisse hatte sie sich letzten Endes zu jener Einzelkämpferin entwickelt, die sie heute war. Dennoch gab es Dinge, die sie selbst ihrem Kollegen verschwieg. Dunkle Flecken auf der Landkarte ihres Lebens, die so grausam waren, dass nicht einmal Belling davon erfahren durfte.
Das beharrliche Klingeln des Smartphones riss sie aus ihren Gedanken. Lena starrte das Handy unschlüssig an. Es war ihr freier Tag, und etwas sagte ihr, dass dieser Anruf nichts Gutes verhieß. Entweder brauchte Belling ihren Rat, da er wieder einmal Ärger mit seiner heranwachsenden Tochter hatte und um nichts in der Welt seine Exfrau kontaktieren wollte, oder aber es gab einen Mord. Dann
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