Seelenriss: Thriller
dem Becky und ich nicht auch an sie denken.« Er versuchte ein Lächeln und sagte: »Unser kleiner Felix hat sie neulich sogar in seine Gutenachtgebete eingeschlossen und …«
»Was willst du, Kai?«, unterbrach er seinen aufdringlichen Nachbarn mit tiefer, fester Stimme.
»Das fragst du noch?« Hübner hielt den Sixpack in die Höhe und grinste. »Vergiss es, Kumpel, so leicht wirst du mich nicht los. Ich werde nicht länger mit ansehen, wie du dich zugrunde richtest. Also dachte ich, wir unterhalten uns mal ein bisschen, so von Mann zu Mann.«
»Dachtest du …«, brummte er und stützte sich mit einer Hand am Türrahmen ab, die andere fuhr wieder in die Bauchtasche seines Kapuzenpullovers. »Kai …?«
Der Nachbar hob den Kopf. »Ja?«
»Ich bin nicht dein Kumpel – wie oft soll ich dir das noch sagen?«
Sichtlich getroffen wandte Kai Hübner den Blick ab und murmelte etwas in sich hinein. Doch schon bald darauf wich sein Ausdruck einer neugewonnenen Entschlossenheit. »Hör mal, ich bin nicht besonders gut in so etwas, aber …« – mit zusammengepressten Lippen schüttelte er den Kopf – »so hart das alles für dich im Moment auch sein mag, du musst jetzt stark sein.«
Herrgott! Diese albernen Plattitüden waren so ziemlich das Letzte, was er jetzt brauchen konnte!
Hübner holte kräftig Luft. »O Mann, wenn ich mir vorstelle, dass meiner Becky …«, stammelte er, ohne den Satz zu beenden. »Glaub mir, Kumpel – ich weiß genau, wie du dich fühlst.«
Er funkelte Hübner zornig an. Überhaupt nichts weißt du! Sollte ihn diese widerliche Zecke allerdings noch ein einziges Mal »Kumpel« nennen, würde er ihm hier und jetzt bei lebendigem Leibe die Haut abziehen. »Weiß Rebecca, dass du hier bist?«, fragte er dann.
Hübner antwortete mit einem Kopfschütteln. »Becky ist für ein paar Tage mit Felix zu ihren Eltern in die Schweiz gefahren. Warum fragst du?«
»Ach, nur so.«
»Lässt du mich jetzt rein, oder was?«, fragte Hübner ungeduldig.
Die aufdringliche Hilfsbereitschaft seines Nachbarn ging ihm so sehr auf die Nerven, dass es ihm regelrecht die Kehle zuschnürte. Doch obgleich jeder Eindringling ein Risiko darstellte, hielt er es für das Klügste, dieses lästige Gespräch ein für alle Male hinter sich zu bringen. Hübner würde ja doch keine Ruhe geben, und es galt jetzt, auf jeden Fall zu vermeiden, dass dieser lästige Nachbar erneut vor seiner Tür stehen würde. Er hielt Hübner die Tür auf und wartete, bis er eingetreten war. Dann verriegelte er rasch die Tür hinter ihm.
»Ist Elsa da?«, fragte Hübner und ging mit dem Sixpack in der Hand schnurstracks in die Küche.
»Nein, ist sie nicht«, antwortete er und ließ Hübner nicht aus den Augen.
Kai Hübner öffnete zwei Bierflaschen und stellte sie auf den Küchentisch. Die übrigen legte er in den Eisschrank. »Und wo ist sie?«, fragte er weiter.
»Ist zum Gottesdienst gegangen.« Eine Lüge, aber was machte das schon für einen Unterschied?
Sie setzten sich einander gegenüber, prosteten sich zu und redeten. Und redeten. Und redeten. Er schluckte die bittere Pille und ließ alles über sich ergehen: die »klugen« Ratschläge, das freundschaftliche Schulterklopfen, ja selbst Hübners Scherze, die ihn aufheitern sollten. Das Zusammensitzen in der Küche erschien ihm endlos und wurde von Minute zu Minute unerträglicher. Er starrte durch seinen Nachbarn hindurch und gab einsilbige Antworten, während er ungeduldig auf dem Stuhl herumrutschte und sein Blick immer wieder die Wanduhr streifte. Sie hatten gut zwei Drittel der Bierflaschen geleert, da verschwand Hübner zur Toilette.
Kaum war sein Nachbar außer Sichtweite, entrang ihm ein langer Seufzer. Er ging hinüber zum Eisschrank, nahm eine neue Flasche Bier heraus und spülte seine aufgestaute Wut mit einem kräftigen Schluck hinunter. Als Hübner fünf Minuten später immer noch nicht zurück war, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Was zum Henker treibt dieser Trottel da so lange? Misstrauisch geworden, eilte er zum Badezimmer und legte ein Ohr an die Tür. Da war nichts als Stille. Hastig riss er die Tür auf. Hübner war nicht drin!
Plötzlich vernahm er ein Knarren. Blitzschnell wandte er sich um. Die Tür zur Kellertreppe stand offen! Verdammt! Er zog das Messer aus seiner Bauchtasche und rannte mit Riesensätzen über den Flur und die Stufen in den Keller hinunter.
10
Am späten Nachmittag auf dem Revier
der Mordkommission …
»Ist alles in Ordnung?«,
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