Seelenriss: Thriller
wurde. Sie fragte sich, ob diese ständigen Anrufe damit zu tun hatten, dass Belling in letzter Zeit erschöpft und übernächtigt wirkte. Zudem erschien er ihr fahriger als sonst, gerade so, als belaste ihn etwas. »War das Ihre Exfrau?«, fragte Lena vorsichtig nach.
Er schüttelte nur verneinend den Kopf.
Lena nickte knapp und ließ es dabei bewenden. Wer auch immer dieser Anrufer war, er musste ihm ziemlich zusetzen, dachte sie. Im nächsten Moment machte sich auch ihr iPhone bemerkbar. Sie wühlte in ihrer Handtasche und sah, dass der Anruf aus dem Präsidium kam. »Es ist Lucy«, flüsterte sie Belling hinter vorgehaltener Hand zu, kaum dass sie den Anruf angenommen hatte, und presste sich das Telefon wieder ans Ohr. Mit der freien Hand kramte sie rasch etwas Kleingeld aus der Hosentasche und legte es auf den Tisch. Dann gab sie Belling ein Zeichen, dass sie draußen auf ihn warten wolle, wo niemand ihr Telefonat mithören konnte.
Was Lucy zu berichten hatte, rückte die Ermittlungen in ein ganz neues Licht. Das Telefon zwischen Schulter und Ohr geklemmt, lief Lena auf dem Bordstein auf und ab und beeilte sich, die wichtigsten Punkte des Gesprächs in ihrem Notizbuch festzuhalten. »Okay, wir fahren sofort hin«, sagte Lena in ihr Handy und beendete das Telefonat.
Belling trat zu ihr auf die Straße. »Und?«, fragte er erwartungsvoll.
»Aus dem Pathologischen Institut ist soeben die Nachricht gekommen, dass es vor einigen Tagen bereits ein weiteres Opfer gegeben hat«, erklärte Lena und steckte ihr Notizbuch ein. »Los, kommen Sie, wir machen uns selbst ein Bild davon.«
Belling folgte ihr im Eiltempo zum Wagen.
»Bei dem Opfer handelt es sich um eine Maskenbildnerin, die sich vom Dach des Deutschen Theaters gestürzt haben soll.« Lenas Worte überschlugen sich, und beim Laufen gestikulierte sie wild in der Luft herum. »Und jetzt halten Sie sich fest: In ihrem Spind ist die gleiche Morddrohung sichergestellt worden, die auch Lynn Maurer und ich erhalten haben!«
Belling riss den Kopf zu ihr herum. »Großer Gott …!«, entfuhr es ihm, und er hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten.
»Aber das ist noch längst nicht alles«, fuhr Lena fort. »Auf der Botschaft steht die Ziffer Eins – sie war also definitiv das erste Opfer, der Auftakt der Mordserie!«
Belling schüttelte entsetzt den Kopf. Am Wagen angelangt, hielt er kurz inne und starrte Lena über das Dach seines Peugeots mit zusammengekniffenen Augen an. »Und warum erfahren wir davon erst jetzt?«
»Das habe ich mich auch gefragt«, sagte Lena und stieg in den Wagen. »Offenbar war man bei dem Opfer zunächst von Selbstmord ausgegangen, weshalb dem Vorfall keine größere Bedeutung beigemessen wurde. Nachdem es nun aber einen ähnlichen Fall gibt, hat Drescher den Leichnam von Ann-Kathrin Weiß ebenfalls obduzieren lassen. Und siehe da: Auch bei ihr wurden Spuren von Verätzungen nachgewiesen.«
Belling schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. »Verdammt! Sieht ganz so aus, als hätten Sie mit Ihrer Annahme mal wieder ins Schwarze getroffen.« Er lenkte den Wagen auf die Straße und gab Gas. »Der Täter scheint tatsächlich eine Todesliste abzuarbeiten.«
Lena sah ihn an, als habe er ihr eine unangenehme Frage gestellt. »Fragt sich nur, wie lang diese entsetzliche Liste ist.« Sie blickte zum Beifahrerfenster hinaus und fügte in Gedanken hinzu: Und ob ich es schaffe, das perverse Spiel dieses Psychopathen zu durchschauen, ehe Volker Drescher mich in weniger als achtundvierzig Stunden von dem Fall entbindet .
8
Institut für Rechtsmedizin, Moabit …
Es ging bereits auf vierzehn Uhr zu, und die Sonne brannte erbarmungslos auf sie herab, als Lena und Belling das ehemalige Städtische Krankenhaus in der Turmstraße erreichten und auf den Eingang der Forensischen Pathologie zusteuerten. Der graue Gebäudekomplex bot einen ebenso unschönen Anblick wie die Toten, die hinter diesen Mauern obduziert wurden.
Als sich die elektrische Schiebetür surrend öffnete, stand Dr. Kurt Böttner, Mitte fünfzig, das schüttere rötliche Haar im Nacken zu einem dünnen Pferdeschwanz gebunden, im Schutzkittel am Waschbecken und war gerade dabei, seine blutigen Laborhandschuhe abzustreifen. Die klassische Musik, die schon im Gang zu hören gewesen war, passte eher zu einem romantischen Restaurant mit weißen Tischdecken und Kerzenschein statt zu einem mit Kunstlicht ausgeleuchteten Obduktionssaal. Doch wie Lena der Gerichtsmediziner in einem schwachen
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