Seelenriss: Thriller
seiner stummen Patienten kannte, pflegte er stets von den Verstorbenen, dem Leichnam oder den Toten zu sprechen. Lena vermutete, dass ihm das half, die nötige Distanz zu wahren und zu verdrängen, dass da ein Mensch aus Fleisch und Blut vor ihm lag, der eine Vergangenheit hatte. Sie senkte den Blick wieder auf die Tote und betrachtete sie nachdenklich. Warum hat der Killer dich ausgewählt? Welches Geheimnis hast du mit in den Tod genommen?
»Irgendwelche Schnittverletzungen?«, erkundigte sich Belling.
»Nichts dergleichen«, antwortete der Gerichtsmediziner.
Belling kratzte sich am Kopf. »Ist doch seltsam, dass der Leichnam von Lynn Maurer geradezu übersät war mit Schnittwunden, der von Ann-Kathrin Weiß aber nicht.«
Zustimmend nickte Lena. »Wenn Weiß das erste Opfer war, dann würde das bedeuten, dass die Grausamkeit, mit der der Täter vorgeht, sich von Opfer zu Opfer steigert – gerade so, als würde er durch das Töten innerlich abstumpfen.«
»Gut möglich«, warf Dr. Böttner ein. »Aber das ist Ihre Baustelle, nicht meine.« Er streifte seine Handschuhe ab. »Wenn Sie mich jetzt also bitte entschuldigen würden.«
Lena wechselte einen vielsagenden Blick mit Belling. Beiden schoss derselbe Gedanke durch den Kopf, denn in diesem Moment wurde ihnen das ganze Ausmaß an Brutalität bewusst, mit der der Killer vorging.
9
Zur gleichen Zeit in Berlin-Wilmersdorf …
Er zögerte. Erst nach einem zweiten längeren Surren der Türklingel klappte er seinen Laptop zu, fuhr den Bürostuhl zurück und griff nach dem blutverkrusteten Jagdmesser auf dem Schreibtisch. Das grelle Tageslicht stach ihm beim Verlassen des abgedunkelten Raums in den Augen. Er schlich sich über den Flur zur Haustür und beäugte diese argwöhnisch. Im Gegensatz zu seinem Arbeitszimmer waren die übrigen Räume im Haus ordentlich und sauber, was er seiner Schwiegermutter Elsa zu verdanken hatte. Davon abgesehen, wurde die alte Dame trotz ihrer Gebrechlichkeit für ihn zunehmend zum Problem. Erst neulich hatte er sie dabei erwischt, wie sie nachts durch das Haus geschlichen war, um ihm hinterherzuspionieren. Seither achtete er penibel darauf, die Tür zu seinem Arbeitszimmer ebenso verschlossen zu halten wie die zur Kellertreppe.
Das erneute Surren der Türklingel machte ihn nervös. Ein Blick durch den Spion verriet ihm, dass Kai Hübner in Bermuda-Shorts und halb aufgeknöpftem Hawaiihemd vor der Tür stand. Er hielt ein Sixpack in der Hand. Verdammt, er hätte sich denken können, dass der irgendwann aufkreuzen würde! Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war ein aufdringlicher Nachbar, der nichts Besseres zu tun hatte, als den Seelsorger zu spielen. Hübners Zahnpastalächeln ging ihm schon lange auf die Nerven – ebenso wie seine ständigen Einladungen zum Skat, zum Bowling oder zu was auch immer. Auch ihn würde er im Auge behalten müssen, denn Hübner wusste über alles und jeden in der Straße Bescheid. Er wusste, wer wann wo ein-oder ausgezogen war und wer die Frau oder den Job verloren hatte. Zudem spielte er sich nur zu gerne als Hilfssheriff auf.
»Komm schon, ich weiß doch, dass du da bist – nun mach schon auf …«, drang es dumpf durch die Haustür. »Wir haben dich gestern bei unserer Skatrunde vermisst und machen uns allmählich Sorgen um dich. Lässt dich ja auch sonst überhaupt nicht mehr blicken.«
Ohne sich vom Türspion wegzubewegen, umgriff er das Jagdmesser in seiner Hand so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten.
»Ich kann mir vorstellen, dass das alles für dich furchtbar schwer sein muss«, fuhr Hübner mit seinem Zureden fort. »Wie du weißt, war das für uns alle ein gewaltiger Schock. Und ich wollte nur, dass du weißt, du kannst jederzeit zu uns kommen, wenn du jemanden zum Reden brauchst.«
Warum steckst du dir deinen beschissenen Sixpack nicht sonst wo hin und verschwindest einfach wieder? Seine linke Hand ruhte auf dem Türgriff. Als er sah, wie sein Nachbar den Finger ein weiteres Mal nach der Türklingel ausstreckte, ließ er das Messer kurzerhand in der Bauchtasche seines Kapuzenpullovers verschwinden und öffnete.
»Äh, hallo …«, stieß Hübner sichtlich irritiert hervor und starrte ihn mit leicht geöffnetem Mund an. »Nimm’s mir nicht übel, Kumpel, aber du siehst schrecklich aus.«
Der Mann verzog keine Miene.
»Ich weiß, wie sehr dir ihr Tod zusetzen muss«, druckste Hübner herum und spähte neugierig in den Flur. »Glaub mir, es vergeht kein Tag, an
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