Seelenriss: Thriller
Nieselregen war stärker geworden und lief ihm übers Gesicht, als Marietta sich mit einem genervten Seufzer nach ihm umwandte. »Was willst du, Papa?«
»Es tut mir leid! Mag sein, dass ich ein wenig überreagiert habe …«, brachte er reumütig über die Lippen. »Na komm, nun steig schon ein, ich fahr dich zu Anne.«
Ein Lächeln legte sich über Mariettas schmales Gesicht, während sie sich mit einer fahrigen Handbewegung den Pony aus der Stirn strich.
Belling hob den Zeigefinger. »Aber nur, wenn du mir versprichst, bei dem Konzert die Finger von den Drogen zu lassen.«
Freudestrahlend fiel ihm Marietta um den Hals und hob wie zum Schwur die Hand. »Großes Ehrenwort, Papa.«
Belling wurde ganz leicht ums Herz. Und als sie durch den Regen zurück zum Wagen liefen, war er unendlich froh, ausnahmsweise einer Meinung mit seiner Tochter zu sein.
18
Marietta war bei weitem nicht das Einzige, was Wulf Belling Magenschmerzen bereitete. Die Scheibenwischer kämpften unermüdlich gegen den Regen an, als Belling keine Viertelstunde nachdem er Marietta bei ihrer Freundin abgesetzt hatte, einen abgeschiedenen Parkplatz ansteuerte, der lediglich von einer im Regen flackernden Laterne beleuchtet wurde.
Obwohl sich alles in ihm zusammenzog, zwang er sich, nicht wieder umzukehren. Er wusste, er war längst zu weit gegangen. Nur noch ein paar Treffen, ein paar Telefonate und ein paar hundert Euro, dann wäre er von seinen Qualen erlöst, hätte endlich Gewissheit und würde diesen dunklen Abschnitt seines Lebens ein für alle Male hinter sich lassen. Bleib ganz ruhig und bring das hier einfach nur schnell hinter dich , befahl er sich und inhalierte einen letzten Zug von seiner Zigarette.
Im Schutz der Dunkelheit erwartete ihn bereits eine Gestalt im Anorak. Sie hatten sich gleich hinter dem Kassenautomaten verabredet. Belling fuhr langsam darauf zu, war wie immer pünktlich auf die Minute. Er stoppte den Wagen und schaltete den Motor aus. Das Scheinwerferlicht erlosch.
Der Regen zog in feinen Bahnen quer über die Windschutzscheibe, als sich die Beifahrertür öffnete und der Mann zu ihm in den Wagen stieg. Was folgte, war ein kurzer Austausch – ein Umschlag mit Fotos, aufgenommen aus sicherer Entfernung, gegen einen Umschlag mit Geld. Viel Geld, für das Belling hart hatte arbeiten müssen. Wenige Minuten später verließ der Mann den Wagen und verschwand in der Dunkelheit.
19
Noch in derselben Nacht …
Lena Peters saß in Jogginghose und weitem T-Shirt im Wohnzimmer vor ihrem Laptop und hatte die letzten Stunden damit zugebracht, über den Psychiater Professor Simon Wallau im Zusammenhang mit Sterbehilfe zu recherchieren. Ein mühsames Unterfangen, das weitaus ergebnisloser verlaufen war, als Lena es sich erhofft hatte. Gleiches galt für die Patientenakte von Ann-Kathrin Weiß, die ihr Wallaus Sprechstundenhilfe aufs Revier gefaxt und die sie schon unzählige Male durchgelesen hatte.
Die Akte enthielt nicht den allerkleinsten Hinweis, der für die Ermittlungen relevant war. Es gab nichts als aneinandergereihte Fakten über den Krankheitsverlauf einer depressiven jungen Frau, deren grausame Ermordung Lena nicht hatte verhindern können. Der Rotwein, den Lena sich aufgemacht hatte, war inzwischen fast leer und hatte eine ebenso beruhigende Wirkung auf sie wie die Sonate von Rachmaninow, die leise im Hintergrund lief. Das aufgebackene Käse-Baguette lag allerdings noch immer unangetastet auf dem Teller und war inzwischen kalt geworden. Wieder hatte sie keinen Appetit. Wieder war da dieser stechende Schmerz im Kopf, den sie ebenso erfolglos zu verdrängen versuchte wie den Vorfall in der verlassenen Industrieanlage.
Aus Angst, Volker Drescher würde sie wegen des erhöhten Risikos endgültig vom Fall entbinden, hatte Lena beschlossen, die Geschehnisse vorerst für sich zu behalten. Zudem war sie wesentlich zäher, als es ihr die Leute aufgrund ihrer äußeren Erscheinung zutrauten, und sie war überzeugt, gut auf sich selbst aufpassen zu können. Die Verletzung am linken Arm hatte sich als weniger dramatisch herausgestellt als zunächst angenommen. Viel mehr als ein paar Schürfwunden und Prellungen beschäftigte Lena nun die Frage, ob es sich bei dem Fahrer des Lieferwagens um den Killer gehandelt hatte. Doch was hätte er mit dieser Aktion bezwecken sollen? Wollte er ihr einen Denkzettel verpassen, um ihr seine Überlegenheit zu demonstrieren? Sie dafür bestrafen, dass es ihr noch immer nicht gelungen war,
Weitere Kostenlose Bücher