Seelenriss: Thriller
sein tödliches Spiel zu durchschauen? Ganz gleich, wie Lena es auch drehte und wendete, diese Verfolgungsjagd auf dem Nachhauseweg von Matthias’ Praxis passte in keinster Weise in das Profil des »Säure-Mörders«, wie ihn die Klatschpresse mittlerweile getauft hatte.
Sie spülte die zweite oder dritte Kopfschmerztablette mit dem letzten Schluck Merlot herunter und kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Nein, das warst du nicht – das wäre viel zu einfach für dich«, murmelte sie vor sich hin. »Du hältst dich beim Töten zwanghaft an deine Rituale und weichst niemals davon ab. Du kommst nicht dagegen an – es ist wie eine innere Stimme, die dir befiehlt, was du tun und lassen sollst …«
Es ging bereits auf Mitternacht zu, als Lena gähnend die Arme über dem Kopf ausstreckte und das Geschirr in die Küche brachte. Sie stellte es in die Spüle, öffnete das Küchenfenster, um ein wenig frische Luft hereinströmen zu lassen, und starrte in das Halbdunkel des Hofs.
Draußen plätscherte der Regen vor sich hin, und nur hier und da hörte man eine Tram vorbeifahren oder das Hupen eines Autos. Du bist irgendwo da draußen und treibst dein perverses Spiel mit mir … Die kaltblütige Bestie, die hinter deiner angepassten Fassade schlummert, weißt du nach außen hin perfekt zu verbergen. Doch obwohl dir deine Unsichtbarkeit ein Gefühl von Macht verleiht, bist du zu feige, mit mir auf Augenhöhe zu kommunizieren. Vergeltung ist die einzige Sprache, die du kennst , ging es Lena durch den Sinn. Sie kippte das Fenster und beschloss, unter die Dusche zu springen und dann ins Bett zu gehen. Morgen stand ihr ein harter Tag bevor, bei dem sie all ihre Kräfte brauchen würde.
Lena schlenderte über den kargen Flur, in dem sich noch immer ein paar Umzugskartons stapelten. Zum Auspacken aller Kartons war sie selbst Wochen nach ihrem Einzug noch nicht gekommen, geschweige denn hatte sie es geschafft, ihren vier Wänden etwas Wohnlichkeit zu verleihen.
Lena war einfach nicht der Typ, der Kataloge von Einrichtungshäusern oder Magazinbeilagen mit Dekorationstipps durchblätterte. Sie steckte ihre Nase lieber in dicke Wälzer über fallanalytische Verfahrensweisen, Sexualverbrechen oder historische Kriminalfälle. Auch nach Familienfotos, Postkarten oder Souvenirs vergangener Urlaube suchte man in ihrer Wohnung vergebens. In dieser Wohnung gab es nichts, das an Lenas Vergangenheit erinnern sollte. Stattdessen hingen Fotos der mit Säure verätzten Opfer am Kühlschrank, Tatortskizzen am Badezimmerspiegel, und jede Menge Notizen zum Täterprofil lagen auf dem Nachttisch in ihrem Schlafzimmer.
Lena streifte im Flur ihre Turnschuhe ab, als ihr bei einem beiläufigen Blick ins Wohnzimmer etwas Eigenartiges ins Auge stach: Die Figuren auf dem Schachbrett, das seit ihrem Einzug auf der Wohnzimmerkommode stand, waren verschoben worden. Stutzig geworden, trat Lena näher. Sie legte den Kopf schief, und ihr Blick verharrte auf dem Schachbrett. Einer ihrer Bauern war geopfert worden, wodurch ihre Dame nun ohne Deckung auf dem Spielfeld stand. Das kann doch nicht sein!
Lena spürte, wie es ihr kalt den Rücken herunterlief, und sie blickte verstört auf. Es war bloß eine Kleinigkeit, doch sie war eine begnadete Schachspielerin, die keinen Zug einer Partie vergaß. Niemals. Jemand muss in der Wohnung gewesen sein , zuckte es ihr durch den Kopf. Mit einem unguten Gefühl warf sie einen Blick über ihre Schultern und sah sich im Wohnzimmer um. Oder sollte ihr der Fall etwa doch mehr zusetzen, als sie sich eingestehen wollte, und sie sich getäuscht haben? Sie massierte sich die Schläfen, und ehe sie den Gedanken zu Ende führen konnte, klingelte ihr Festnetztelefon. Lena fuhr herum und lief in den Flur. Als sie das Telefon aus der Station nahm, meldete sich niemand. Schlagartig nüchtern geworden, startete sie einen weiteren Versuch: »Hallo? Wer ist da?«
Nichts.
»Hallo? Wenn das ein schlechter Scherz sein soll, dann …« Sie verstummte. Die Leitung war bereits tot. Lena legte auf und starrte das Telefon eine Sekunde lang nachdenklich an. Obwohl sie sich einredete, nicht in Gefahr zu sein, überfiel sie eine plötzliche Panik. Sie lief durch die Wohnung, um Fenster und Türen zu verriegeln. Erst das vertraute Klicken beim Einhängen der Sicherheitskette brachte die erhoffte Erleichterung mit sich, da vernahm sie ein leises Knacken hinter sich.
Erschrocken wandte sie sich um, nur um sich im nächsten Augenblick mit der
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