Seelenriss: Thriller
fiel ihr auf, dass der Wagen kein Nummernschild trug. Lena kniff die Augen zusammen und versuchte, einen Blick auf den Fahrer zu erhaschen, doch das Gesicht des Mannes war von einer Kapuze verschattet. Kurz entschlossen machte Lena eine scharfe Rechtskurve, um über das stillgelegte Industriegebiet auszuweichen. Weit und breit war kein Auto mehr in Sicht, da hörte sie plötzlich den aufheulenden Motor eines Wagens hinter sich. In ihrem Rückspiegel tauchte der schwarze Wagen auf. Verdammt!
Lena spürte, wie sich ihr ganzer Körper verkrampfte. Staub wirbelte auf, und die Tachonadel neigte sich jetzt bis zum Anschlag, während sie in einem halsbrecherischen Tempo über den sandigen, mit Schlaglöchern übersäten Asphalt jagte. Plötzlich rammte sie der Wagen, und Lenas Roller geriet ins Schleudern. In letzter Sekunde schaffte sie es, die Kontrolle zurückzuerlangen und einen Sturz zu verhindern. Doch der Wagen erwischte sie erneut. Die Wucht des Aufpralls riss sie von ihrer Vespa, und Lena schlitterte meterweit quer über den rauen Asphalt. Die Vespa, der Lieferwagen, die heruntergekommenen Fabrikgebäude, alles drehte sich und verschwamm. Ein gleißender Schmerz durchfuhr ihren linken Arm.
Kaum hatte sie die Orientierung wiedererlangt, richtete sie sich keuchend auf und riss den Kopf nach dem Lieferwagen herum, der in diesem Moment eine Kehrtwendung auf dem Industriehof machte. Er beschleunigte abermals und raste geradewegs auf sie zu. Blitzschnell zog Lena ihre Pistole aus dem Holster, zielte auf das Fahrzeug und feuerte einhändig mehrere Schüsse ab, die wie Donnerschläge durch die Industrieruine dröhnten. Die vierte Kugel traf einen Vorderreifen. Der Wagen zog scharf nach rechts, fuhr aber weiter auf sie zu. Lena war wie gelähmt und die Zeit stand sekundenlang still, als ihr die Erinnerung an das entgegenkommende Fahrzeug, durch das ihre Eltern zu Tode gekommen waren, wie ein heller Blitz durch den Kopf schoss. Zu ihrem Erstaunen riss der Fahrer das Steuer im letzten Moment herum. Der Lieferwagen verfehlte sie um Haaresbreite und preschte mit quietschenden Reifen davon.
17
Spät am Abend im Berliner Westend …
Als Wulf Belling den Busbahnhof erreichte, sah er seine Tochter bereits von weitem. Marietta hockte bei einsetzendem Nieselregen im Lichtkegel einer Laterne auf ihrer Reisetasche. Als sie seinen Peugeot bemerkte, sah sie mit mürrischer Miene auf und nahm ihre iPod-Stöpsel heraus, aus denen Heavy Metal rauschte. Sie stand langsam auf und kam in Schlaghosen und knappem Trägertop auf ihn zu. Die Augen waren dick mit schwarzem Kajal umrandet.
Belling murmelte eine Entschuldigung aus dem heruntergelassenen Fahrerfenster, doch erwartungsgemäß ließen Mariettas Vorwürfe nicht lange auf sich warten. »Mama hätte mich niemals eine halbe Ewigkeit in der Dunkelheit warten lassen«, motzte sie, kaum dass sie ihre Tasche auf die Rückbank geworfen und auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte.
Mit schlechtem Gewissen wandte Belling den Blick ab, zog an seiner Zigarette und spürte, wie ihm die Worte seiner Tochter regelrecht die Brust zuschnürten. Seine fadenscheinigen Ausreden für seine Verspätung stießen bei Marietta auf taube Ohren, und mit der Wahrheit versuchte er es erst gar nicht, wohl wissend, dass ihn seine Tochter dafür nur umso mehr hassen würde. Schließlich hasste er sich selbst am allermeisten für das, was er dieser Tage abzog. Niemals zuvor war er sich in seinem Leben derart schäbig, aber gleichzeitig auch hilflos vorgekommen wie in den letzten zwei Wochen. Er schämte sich so sehr, dass er mit niemandem darüber sprechen konnte. Nicht einmal mit Lena Peters.
»Und du hast allen Ernstes deine Mitschüler beklaut?«, lenkte er vom Thema ab, indem er seine Tochter mit den Vorwürfen ihrer Lehrer konfrontierte. »Herrgott noch mal, du hättest mir doch sagen können, wenn du Geld brauchst.«
Den Blick aus dem Beifahrerfenster gerichtet, raufte Marietta sich die pflaumenfarben gefärbten, zu einem strengen Pagenkopf geschnittenen Haare. »Scheiß auf die Kohle, darum ging’s mir doch gar nicht!«
»Sondern?«
»Ich wollte diesen versnobten Söhnchen aus meiner Klasse eben einfach mal eins auswischen«, gab Marietta mit einem gleichgültigen Achselzucken von sich und ließ eine Kaugummiblase platzen.
»Und warum, wenn ich fragen darf?«, wollte Belling wissen und bog an der nächsten Kreuzung Richtung Friedenau ab.
»Warum, warum – du stellst vielleicht Fragen!«
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