Seelensplitter: Thriller (German Edition)
Kraft, und draußen an der frischen Luft kann man das hervorbrechende Grün schon riechen.
Wer weiß schon, wie dieser Tag ausgeht. Die Interne ist aus gutem Grund gefürchtet. Vielleicht verkaufe ich schon nächste Woche Fischbrötchen im Hafen, denkt Lina. Die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig.
Während sie den Flur entlanggeht, fallen ihr Offerten von Sicherheitsdiensten ein, die eine »aufgabenorientierte Bezahlung« bieten und »Jobs mit Zukunft« versprechen. Einer ihrer Kollegen erwägt ernsthaft, sich abwerben zu lassen und im Auftrag von Reedereien als Begleitschutz auf Containerschiffen mitzufahren. Das 21. Jahrhundert feiert die Wiederauferstehung der Piraten. Doch die kommen nicht mehr mit Säbeln und Totenkopfflaggen in Galeonen, sondern mit Schnellfeuergewehren und Panzerfäusten in Schnellbooten. Den Umgang mit Macheten haben sie allerdings trotzdem nicht verlernt. Möglichweise ist das Leben auf See viel einfacher. Nächtliche Wachen, und jeder weiß, was einen da im Golf von Aden erwartet.
Lina fröstelt bei der Vorstellung, über Tage, Wochen, Monate mit anderen zusammen auf kleinem Raum eingepfercht zu sein und obendrein den Auftrag zu haben, Menschen zu töten, die bei Entdeckung ihrer Schlauchboote keine Chance haben.
Sie klopft an die Bürotür und tritt ein. Die Sekretärin sieht kurz hoch und deutet mit dem Kugelschreiber auf die Tür neben sich.
»Gehen Sie einfach hinein, Frau Andersen. Der Kollege Emmert wird gleich Zeit für Sie haben.«
Das Büro misst gut und gerne 20 Quadratmeter. Zwei einander gegenüberstehende Schreibtische mit Flachbildschirmen und Drucker. An zwei Wänden ziehen sich Regalreihen entlang, die mit Aktenordnern und Papierstapeln gefüllt sind. In der Ecke steht ein runder Besprechungstisch mit vier Stühlen, darauf eine Vase mit einem vertrockneten Blumenstrauß.
Lina geht auf eine große Stellwand zu, an der Tatortfotos befestigt sind.
Es erleichtert sie fast, ihre Erinnerungen hier auf Papier gedruckt zu sehen, statt sich gegen die Bilder zu wehren, die ihr ständig durch den Kopf spuken.
Das Schlafzimmer. Die Küche, in der sie gesessen und auf die Kollegen gewartet hat. Die Fotos, die Carolins Leichnam und ihren zerfetzten Unterleib zeigen.
Lina spürt ein Würgen, kann sich jedoch von dem Anblick nicht losreißen. Besonders nicht, da sie in diesem Moment liest, was jemand mit schwarzem Filzstift unter die Bilder geschrieben hat: »Selbsterfahrungsgruppe«, dahinter ein großes Fragezeichen.
Sie hat plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden, und dann sieht sie sie. An einem der Bildschirme klemmt eine Kamera. Sie geht wie beiläufig einen Schritt auf den Bildschirm zu, ohne auffällig hinzusehen, und entdeckt ein kleines rotes Lämpchen. Die Kamera ist eingeschaltet. Spielchen, denkt sie.
Das heißt, man verdächtigt sie. Oder vermutet zumindest, dass sie nicht die ganze Wahrheit gesagt hat. Was ja auch stimmt. Sie muss Sven etwas anbieten. Unbedingt. Wenn die Löwen hungrig sind …
»Hallo, Lina«, sagt Sven, der lautlos den Raum betreten hat. Er geht zu seinem Arbeitsplatz und zieht die Kamera vom Bildschirm.
»Ich wollte wissen, wie du auf die Tafel reagierst.«
Gut, denkt Lina, dann sind zumindest die Fronten geklärt. Das macht es einfacher.
»Wollen wir uns an den Tisch setzen? Magst du einen Kaffee?«
»Sicher.«
Dabei wäre ihr jetzt nach einer Zigarette und einem Schnaps. Sven öffnet die Tür zum Vorraum und bittet die Sekretärin um zwei Tassen Kaffee.
»Lina, um dir gleich zu sagen, was los ist: Wir haben im Grunde noch nichts.«
»Ihr habt eine Leiche.«
»Richtig«, sagt Sven. »Und wir haben dich. Du kanntest die Frau, und ich halte viel von deinen Fähigkeiten, wie du weißt.«
Vielleicht haben sie tatsächlich nichts, wenn er schon jetzt mit Komplimenten kommt, denkt Lina.
»Was ist mit der Leiche?«
Sven zögert.
»Eigentlich darf ich dir das nicht sagen.«
Aha, diese Strategie also. Er baut ein Vertrauensverhältnis auf. Die kleine Polizistin von der Straße darf mitpuzzeln. Wird um Rat gefragt.
»Gibt es denn Zweifel an einem Selbstmord?«
»Lina, ich bitte dich. Niemand bringt sich auf diese Weise um. Außerdem, woher sollte sie wissen, wie man eine derartige Bombe bastelt?«
Die Sekretärin kommt herein und stellt zwei Tassen Kaffee auf den Tisch. Sie wirft Lina einen abschätzenden Blick zu.
Aha, denkt Lina. Svens neue Favoritin, die ihn aus Alltags- und Ehetristesse retten soll.
»Also die Leiche«, sagt
Weitere Kostenlose Bücher