Seelensplitter: Thriller (German Edition)
braucht ein paar Sekunden, bis sie ihn erkennt.
»Du?«, sagt sie und taumelt erschrocken zurück.
30
Z u Beginn der Gruppentherapie lebte Carolin Scharnhövt noch mit ihrem Freund zusammen. Sie vergötterte ihn. Ihr größtes Problem war, dass sie nicht glauben konnte, dass er bei ihr bleiben würde.
»Was kann ich ihm denn schon bieten?«
Lina fiel auf, dass Carolin errötete, wenn die anderen ihr zuhörten. Oft brach sie unvermittelt ab und suchte einen Weg, sich nicht in den Mittelpunkt zu stellen.
»Du hast einen Beruf. Du verdienst deinen Lebensunterhalt. Ist das nichts?«, fragte Astrid. Ihre Stimme legte an Schärfe zu, wenn sie den Eindruck hatte, dass Frauen sich unter ihrem Wert verkauften, wie sie es nannte.
»Du hast gesagt, du bist Grafikdesignerin. Was machst du genau?«, fragte Pia.
Carolin war sichtlich erleichtert, dass Astrid zunächst die Möglichkeit genommen war, weiter nachzubohren.
»Werbezeugs. Flyer gestalten, Anzeigen. Was so reinkommt.«
»Nichts Künstlerisches?«, fragte Stefanie.
»Na ja, ich illustriere so nebenher immer wieder mal Kinderbücher.«
Stefanie war deutlich der Neid anzusehen.
»Ich glaube, du lässt dich von deinem Typen kleinmachen«, sagte Astrid. »Was macht er denn, der große Held?«
»Er ist Modellbauer«, sagte Carolin und sah zu Boden. »Er ist ein guter Mann.«
»Der abends spät nach Hause kommt, weil er seiner Kollegin noch eine Einführung geben muss.«
»So ist er nicht«, sagte Carolin, die mit den Tränen kämpfte.
»Und was ist mit deinen Verlassenheitsängsten?«, fragte Astrid. »Was mit den Selbstmordgedanken?«
»Das hat mit mir zu tun, nicht mit ihm«, sagte Carolin. »Ich fange an herumzudenken, und dann steigere ich mich da hinein. Es sind die Bilder. Die sind in meinem Kopf. Ich bin das. Ich allein.«
»Hat er’s denn zugegeben?«, fragte Stefanie. »Ich meine, dass er fremdgegangen ist?«
»Das eine Mal war eine Ausnahme. Er ist nicht so.«
»Und deshalb hast du wohl auch an deinen Pulsadern herumgeschnitten. Rück doch mal raus damit«, sagte Astrid angriffslustig.
Carolin warf ihr einen giftigen Blick zu. Offenbar hatte Carolin nur Astrid und Carlheim ihren Selbstmordversuch anvertraut. Niemand sonst in der Therapiegruppe wusste davon. Lina merkte, dass Carolin kurz davor war, aufzuspringen und die Sitzung zu verlassen. Doch dann sackte sie in sich zusammen und ließ den Kopf hängen.
»Es ist so viel in meinem Kopf. Ich muss da aufräumen.«
»Ja, und ziemlich viel Mist«, sagte Astrid.
Stefanie wippte nervös mit ihrem Stuhl vor und zurück.
»Jede erzählt hier das, was sie erzählen will«, sagte sie zu Astrid.
»Na, toll«, erwiderte Astrid. »Und damit sollen wir weiterkommen? Hey, Carolin, wie wär’s damit, mal die Augen aufzumachen. Aufwachen!«
»Na klar, du gehst die Dinge ja immer direkt an«, fuhr Stefanie Astrid an.
»Was soll das heißen?« Astrid funkelte Stefanie zornig an. »Also? Was willst du uns damit sagen?«
»Dass jede ihr eigenes Tempo hat. Man braucht nicht in den Problemen der anderen herumzupopeln.«
Carolin war es spürbar unangenehm, dass sie hier zum Gegenstand eines Streits wurde. Lina hingegen war das nicht ganz unrecht. Sie überlegte sich ein paar schlagfertige Sätze, mit denen sie Astrid – oder wer auch immer sie angreifen würde – im Zaum halten konnte. Sie sah Severin Carlheim an, der wie gewohnt ausdruckslos zuhörte, wenn genug Bewegung in der Gruppe war. Seine Rolle beschränkte sich darauf, Anfangsfragen an eine der Gruppenteilnehmerinnen zu stellen.
»Wir wollen doch nicht in den Wunden herumstochern«, sagte Paul, dem die angespannte Situation ebenfalls unangenehm war.
»Doch, genau das wollen wir«, erwiderte Astrid. »Mit spitzen Fingernägeln rein in die Wunden, sonst bringt das hier doch gar nichts. Wir können doch nicht monatelang drumherum reden. Los Carolin, erzähl mal, wie der Typ auf deiner Geburtstagsfeier eine Freundin von dir knallhart angebaggert hat. Und vergiss nicht zu erzählen, was du gemacht hast.«
»Was meinst du?«, sagte Carolin.
»Also dein Held macht eine Freundin von dir plump an …« Sie sah Carolin erwartungsvoll an. »Na?«
Carolin machte ein ratloses Gesicht, weil sie offensichtlich nicht wusste, worauf Astrid hinauswollte.
»Du bist in die Küche gegangen und hast die Suppe umgerührt. Na los, red schon. Oder willst du etwa, dass das jetzt so weitergeht?«
Isabel, die bis zu diesem Punkt der Auseinandersetzung geschwiegen
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