Seelensplitter: Thriller (German Edition)
könnte jetzt einfach in die andere Richtung gehen, verwirft den Gedanken aber sofort.
Kollege Alex steht vor dem Hauseingang, nickt ihr grüßend zu und zieht dabei ein Gesicht, als müsste er ihr gleich Handschellen anlegen.
»Emmert ist da drin«, sagt er.
Zwei Kollegen versperren den Zugang für Schaulustige, die gebeten werden, auf die andere Straßenseite zu wechseln. Lina rechnet mit allem, nur nicht mit dem, was sie sieht, als sie in den Hausflur kommt.
Im funzeligen Licht stehen Sven Emmert, zwei Assistenten und vier Uniformierte um einen Rollstuhl. Eine Frau mit nach vorn gesacktem Oberkörper und ungepflegtem Haar sitzt in dem Stuhl. Während Lina an den Fahrrädern vorbei um den Rollstuhl herumgeht, verstummt das Gemurmel der Polizisten. Das Flurlicht erlischt, und einer der Beamten drückt auf den Schalter. Mit einem Klackern springen die Neonröhren wieder an. Vor ihr im Rollstuhl sitzt die tote Irene Heise. Ihre vermeintlich leibliche Mutter. In ihrer Brust steckt ein Messer, das Lina an dem gelb gemusterten Griff erkennt. Vor ein paar Stunden hat sie sich in ihrer Küche damit eine Scheibe Brot abgeschnitten.
»Kennst du diese Frau?«, fragt Sven.
Es gibt viele Leute, die sie in dem Altersheim gesehen haben. Die Ordensschwestern werden sich an sie erinnern, an ihre Bitte um die Adresse der anderen Tochter von Frau Heise. Sie darf sich jetzt nicht in Widersprüche verstricken. Lina merkt, wie sie nickt.
»Laut Unterlagen der Behörden ist sie meine leibliche Mutter. Das Messer stammt aus meiner Küche.«
Sven sieht sie völlig entgeistert an.
»Sammelst du Leichen, Lina? Was zum Teufel geht hier vor?«
37
E in Wunder, dass ich nach der Vernehmung wieder nach Hause gehen durfte, denkt Lina, schenkt sich ein Glas Rioja ein und leert es mit einem Zug.
Die Polizei hat Einbruchsspuren an ihrer Tür und an dem veralteten Schloss festgestellt. Während der vier Stunden, die sie im Präsidium war, hat man die Küche auf Fingerabdrücke untersucht und auf Anweisung von Sven ein neues Schloss eingebaut.
Fragen über Fragen. Nein, auch sie kann sich keinen Reim darauf machen, warum zwei Frauen aus dem Kreis ihrer Therapiegruppe ebenso ermordet worden sind wie der Psychotherapeut Severin Carlheim. Nein, sie weiß nicht, wer Irene Heise getötet und in ihrem Hausflur in einem Rollstuhl zur Schau gestellt hat. Nein, sie glaubt nicht, dass die Frau ihre biologische Mutter war. Sie hat nur eingeräumt, Irene Heise aufgesucht und zu ihrer Adoption befragt zu haben.
Warum sich eins der anderen Mordopfer für ihre Vergangenheit interessiert hat, kann sie auch nicht beantworten. Von ihren Gesprächen mit Stefanie, Christina, Isabel und Pia erwähnt sie nichts. Natürlich würden sie ebenfalls eingehend befragt werden, und Lina ist sicher, dass sie ihre Schuld an Carolins Tod auf keinen Fall zugeben werden.
Liebend gern hätte sie Sven mit den Sexvideos auf der CD konfrontiert, die ihn und Astrid in Carolins Bett zeigen. Doch den Film darf sie nicht erwähnen. Erstens würde das ebenfalls unter den Straftatbestand der Unterdrückung von Beweismitteln fallen und zweitens den Eindruck erwecken, als wollte sie einen Ermittler unter Druck setzen.
»Mit bis zu einem Jahr bestraft wird nach Paragraph 295, Strafgesetzbuch, wer Beweismittel …« Ausgerechnet Sven hatte darüber eine Unterrichtsstunde auf der Polizeischule abgehalten.
Ebenso wenig hatte sie über die Informationen gesprochen, die sich außerdem auf der CD befanden.
Sie ist sicher, dass Sven ihr ohnehin nicht glaubt. Also bloß nicht in Widersprüche verstricken. Bis jetzt gibt es nichts anderes gegen sie als einen vagen Tatverdacht. Und ein Alibi, was den Zeitpunkt des Mordes an Astrid betrifft.
Man hält es allem Anschein nach für unwahrscheinlich, dass sie ihre vermeintlich biologische Mutter mit ihrem Küchenmesser ersticht, die Leiche in einen Rollstuhl setzt und dann in den Hausflur stellt. Noch gibt es keine Auskunft der Rechtsmediziner und Forensiker, doch alle Spuren sprechen dafür, dass der Täter Irene Heise in den Hauseingang geschoben und sie erst dort getötet hat. Die Nachbarin, die die Frau gefunden hat, ist mit einem Schock ins Krankenhaus eingeliefert worden.
»Geh in ein Hotel«, hat Sven ihr zum Abschied geraten. Kein so dummer Gedanke. Wer am helllichten Tag eine alte Frau absticht, lässt sich offenbar nicht von einer verschlossenen Wohnungstür abhalten. Mit dem Mord an der alten Frau mit Linas Küchenmesser will jemand
Weitere Kostenlose Bücher