Seelensunde
Galerie aus gesehen hatte. Er fragte sich, wie sie es geschafft haben konnte, unbemerkt in Sutekhs Reich einzudringen und an den sechs Wachen vor der Tür vorbeizukommen. Kein Wunder, dass Sutekh der Sicherheit seiner Grenzen nicht mehr traute.
„Halt!“ Es war die Stimme einer Frau, aber eine Stimme, die einem das Blut gefrieren ließ. Dazu dieser Gestank wie aus einer Gruft, die man nach tausend Jahren zum ersten Male öffnet. Abgestanden, faulig, staubig, der Geruch von verwesendem Fleisch, in dem längst die Maden wohnen. Alastor musste sich beherrschen, damit ihm nicht übel wurde.
Jetzt, da sie etwa drei Meter vor ihm stand, hatte er Gelegenheit, sie eingehender zu betrachten. Sie war über und über bedeckt mit Schichten von kriechendem, sich windendem Gewürm. Überall krabbelten winzige Füßchen und dünne Beine. Fette, weiße Maden krochen über- und umeinander.
Die Gestalt bewegte sich auf Sutekh zu und richtete ihre Worte an ihn. „Dein Sohn hat etwas genommen, das von Rechts wegen Izanami, der Göttin der Schöpfung und der Toten, gehört. Ihr sind die Seele und das Herz geweiht. Durch rituelle Formeln, die gesprochen wurden, und heilige Handlungen. Du hast die Wahl. Liefere die Seele aus oder …“, ihr Kopf wandte sich Alastor zu, „oder den Dieb.“
8. KAPITEL
Der Tempel der Setnakhts, Toronto
V on seiner Ecke aus beobachtete Pyotr Kusnetzov, wie Djeserit Bast an der Hausbar ihres Privatbüros stand und auf eine geschliffene Kristallkaraffe starrte.
Sie ahnte nichts von seiner Anwesenheit. Tatsächlich wäre ihr nicht einmal der Gedanke an einen Eindringling gekommen, schon gar nicht der, dass Pyotr es wagen würde, ungefragt ihr Büro zu betreten. Sie waren ebenbürtig, beide Hohepriester der Setnakhts auf der gleichen Rangstufe. Jedenfalls noch.
Pyotr trug sich mit dem Gedanken, daran etwas zu ändern. Sein Anspruch war, der alleinige große Führer der Setnakhts zu sein, ein überragender Führer, eine unsterbliche Legende als Führer. Und dabei stand Djeserit ihm im Weg.
Djeserit schenkte sich einen zwei Finger hohen Whisky ein. Mit gesenktem Kopf stand sie da, starrte in ihr Glas und schaltete dann die indirekte Beleuchtung über der luxuriösen Hausbar aus schwarzem Marmor an, die einen Lichtkreis in den sonst dunklen Raum warf. Nach dem Debakel dieser Nacht war ihr eher nach gedämpfter Beleuchtung zumute.
Obgleich Pyotr keine Einzelheiten kannte, hatte er das sichere Gefühl, dass sie hinter seinem Rücken etwas ausgeheckt hatte. Und dass dieser Plan gescheitert war. Nun blieb ihm nur festzustellen, welchen Schaden sie angerichtet hatte – ein Gedanke, der ihm die Zornesröte ins Gesicht trieb. Am liebsten hätte er sie auf der Stelle am Hals gepackt und ihr das Genick gebrochen. Aber dazu war es noch zu früh. Alles zu seiner Zeit. Nur lange würde es nicht mehr dauern.
Djeserit war noch immer in den Anblick ihres Glases vertieft, ohne Anstalten zu machen, von dem Whisky zu trinken. Schließlich griff sie zur Karaffe und füllte das Glas fast bis zum Rand. Ihr zitterte die Hand, und sie verschüttete etwas. Mit einem halb verächtlichen, halb belustigten Lächeln sah Pyotrzu, wie sie ihren Drink in großen Schlucken hinunterstürzte. Das war bezeichnend. Djeserit um diese Zeit in ihrem Büro im Tempel und nicht zu Hause im Bett, ganz in Schwarz und dabei Whisky wie Wasser trinkend. Es musste etwas geschehen sein, das sie aus der Bahn geworfen hatte.
Hätte sie sich die Mühe gemacht, ihn vorher um seine Meinung zu bitten, hätte er ihr gleich sagen können, dass es schiefgehen würde. Aber das hatte sie ja nicht nötig gehabt, und so hatte er sie auch nicht bremsen können. Niemand konnte wissen, was sie mit ihrem unbedachten Vorgehen angerichtet hatte.
Das Dumme daran war, dass er es nicht vorhergesehen hatte. Denn unbedacht zu handeln, war eigentlich nicht Djeserits Art. Er war nur zufällig darauf gestoßen, dass etwas im Schwange war. Über ein Mitglied ihrer Leibgarde, das er eingeschleust hatte, hatte er erfahren, dass sie ihren Bodyguards für diesen Abend freigegeben hatte. Da war ihm klar gewesen, dass für diese Nacht etwas Außergewöhnliches geplant war. Wie dumm kann man sein! Er hatte sich nie eine Leibgarde gehalten und konnte sich so einigermaßen sicher sein, dass er nicht verraten wurde. Niemandem zu trauen war immer noch der beste Schutz vor Überraschungen.
„Djeserit“, sprach er sie nun an und trat aus dem Schatten heraus. Er genoss das Schauspiel.
Weitere Kostenlose Bücher