Seelensunde
Wie sie zusammenzuckte und dabei die Hälfte ihres Drinks verschüttete, der Whisky ihr über die Finger lief und auf den Perserteppich kleckerte. Es kam nicht oft vor, dass sie so komplett die Fassung verlor.
„Was machst du hier? Was hast du hier zu suchen?“ Ihre Stimme klang hasserfüllt. „Wie bist du überhaupt hereingekommen?“ Eine berechtigte Frage, denn Djeserits Büro war ausgerüstet wie ein Hochsicherheitstrakt.
„Du hast die Tür offen gelassen“, antwortete er gleichmütig und schenkte ihr ein boshaftes Lächeln. Selbstverständlich war das eine plumpe Lüge, aber das störte ihn nicht.
Sie sah ihm mit hartem Blick ins Gesicht. „Du hast mir meinenFisch weggenommen“, sagte sie dann. „Ich will ihn zurückhaben.“
„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“
„Du bist in mein Büro eingebrochen. Und heute nicht zum ersten Mal. Ich habe gestern schon festgestellt, dass mein Fisch fort ist, ein unbezahlbares Kunstwerk. Du hast ihn gestohlen.“ Djeserits Stimme überschlug sich fast.
„Djeserit, was ist los mit dir? Du wirkst so aufgelöst. So kennt man dich gar nicht.“ Pyotr näherte sich ihr um noch ein paar Schritte. „Ich habe deinen Fisch nicht.“ Während er das versicherte, fragte er sich, wer außer ihm es wohl noch geschafft haben könnte, Djeserits Sicherheitssystem zu überwinden. Die Möglichkeit, dass es einen Eindringling von außen gab, ließ sich nicht so einfach ausschließen. Aber es gab augenblicklich drängendere Sorgen.
Pyotr trat an das Ungetüm aus Glas und Stahl, das ihren Schreibtisch darstellte, und fuhr mit den Fingerspitzen über die spiegelblanke Tischplatte, wobei er vier hässliche Streifen dort hinterließ. Er verachtete Djeserit. Aber solange sie gewissermaßen Kollegen waren, blieb ihm nichts anderes übrig, als mit ihr zusammenzuarbeiten. Erst ihr Tod konnte ihn erlösen. „Was hast du dir dabei eigentlich gedacht?“, fragte er unvermittelt. Die Worte waren nur geflüstert, klangen aber umso drohender.
„Wobei gedacht?“ Sie trank den Whisky aus und stellte das Glas mit einem lauten Knall ab. „Wovon redest du überhaupt?“
„Ich weiß ganz genau, dass du heute Nacht auf der Pirsch gewesen bist“, stellte er in sachlichem Ton fest. „Du hast niemanden geschickt, sondern bist selbst losgegangen. Ich weiß auch, dass dein Vorhaben fehlgeschlagen ist und du unserer Sache ernsthaft geschadet hast. Also frage ich dich: Was hast du dir dabei gedacht?“
„Ich habe gedacht, dass das Mädchen, das du als Blutopfer ausgesucht hast, eine nur unbedeutende Abstammungslinie hat. Und dass wir, wenn wir in diesem Tempo weitermachen, beidean Altersschwäche gestorben sind, bevor wir das Geringste erreicht haben.“
Pyotr stutzte. Wenn sie von dem Blut wusste, wusste sie womöglich auch von der Prophezeiung.
„Ja“, fuhr Djeserit fort, „ich habe gemerkt, dass du mich angelogen hast. Du hast mir eine Geschichte von Reapern aufgetischt, die wir anlocken sollten, indem wir das Blut Unschuldiger vergießen. Dabei ging es ganz allein um das Blut. Aber die Wahl, die du getroffen hast, war alles andere als glücklich. Alle Opfer hatten eine viel zu schwache Spur im Blut, um für dein Vorhaben zu taugen. Besonders das letzte Lamm, das du schlachten wolltest.“
Mit diesem „Lamm“ war Marie Matheson gemeint. Sie war zwar eine Isistochter, aber in ihrer mütterlichen Linie hatte es schon Jahrhunderte lang keine Mitglieder der Isisgarde mehr gegeben. Das Erbe war bei ihr schon so verwässert, dass Marie selbst nichts mehr davon wusste.
„Sicher. Das Mädchen hat nur eine schwache Linie“, räumte Pyotr ein, wobei er darauf bedacht war, nicht zu viel zu verraten. Er hatte seinen Plan akribisch ausgearbeitet. Aber bei der Durchführung wollte er Djeserit nicht dabeihaben.
„Sie ist einfach nicht geeignet. Wie müssen nach einem besseren Opfer Ausschau halten.“ Djeserit schenkte sich einen zweiten Whisky ein. Pyotr registrierte das mit Interesse. Es war erstaunlich, denn früher hatte sie weder Drogen noch Alkohol angerührt. Kaum, dass sie mal beim Essen an ihrem Wein genippt hatte.
„Und da hast du beschlossen, loszugehen und ein besseres Opfer zu besorgen?“ Allmählich kam er dahinter, was in dieser Nacht abgelaufen war. „Ohne Absprache, ohne Absicherung, ohne einen Plan?“
„Ich weiß, dass du dich an Naphré Kurata herangemacht hast. Du hättest die gern vernascht. Oh, mach nicht so ein erstauntes Gesicht. Ich kenne ihren Namen.
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