Seelensunde
dunklen Augen konnte man wirklich versinken. Aber noch etwas anderes zeichnete sie aus. Ihr Blick war auch für ihn undurchdringlich, und das war sehr ungewöhnlich. Seelensammler konnten wie durch ein Fenster durch die Augen der Sterblichen hindurch in deren Seele schauen und erkennen, ob sie hell leuchtete oder mit dunklen Flecken bedeckt war. Alastor war bislang noch kein Sterblicher begegnet, den er nichtim wahrsten Sinne des Wortes hatte durchschauen können. Naphré war die Erste, bei der ihm das nicht gelang. Ihre Seele und ihre Geheimnisse blieben ihm verborgen. Ein Hinweis darauf, dass sie doch keine Normalsterbliche war? Nach den Schwingungen, die er bisher von ihr aufgenommen hatte, hätte sie eine sein müssen. Diese Frau gab ihm Rätsel auf. Das allein sollte ihm eine Warnung sein.
„Du scheinst ja doch Übung im Umgang mit ohnmächtigen Frauen zu haben.“
Er winkte ab und war tatsächlich ein wenig verlegen. „Nur so ein Reflex. Man kann sie doch nicht einfach so liegen lassen.“
Er hatte in der Tat Erfahrung in diesen Dingen, wenn er sie auch auf andere Weise gewonnen hatte, als Naphré es sich vermutlich vorstellte. Alastor dachte nicht gern daran. Er erinnerte sich an seine Adoptivmutter lieber so, wie sie gewesen war, als er noch klein gewesen war. Als es später mit ihr zu Ende gegangen war, hatte er oft an ihrem Krankenbett gewacht. Sie war zu schwach gewesen, um aufzustehen, die meiste Zeit nicht einmal bei vollem Bewusstsein. Unzählige Male hatte er ihr die Kissen zurechtgerückt oder sie im Bett aufgerichtet, sodass sie etwas hatte trinken können. Alastor hatte nie Gelegenheit gehabt, sich von ihr zu verabschieden. Noch kurz vor ihrem Tod war Sutekh gekommen und hatte ihn mit in die Unterwelt genommen. Auch von den anderen Familienmitgliedern hatte er keinen Abschied nehmen können. Sutekh hatte ihn ohne Vorwarnung aus seinem Leben gerissen. Und bevor Alastor wieder auf die Erde und zu den Sterblichen hatte zurückkehren können, waren längst alle zu Staub zerfallen, die zu den Seinen zählten.
Naphré sagte nichts. Ihre einzige Antwort war dieses rätselhafte Lächeln, das ihn aus der Fassung bringen konnte. Das Lächeln einer Raubkatze, bevor sie ihre Beute erlegte? Jedenfalls ging für Alastor jedes Mal die Sonne auf, wenn er Naphré lächeln sah.
Nachdem sie am Hals des Mädchens den Puls gefühlt hatte, ging sie zum Treppenaufgang und rief hinauf: „Niko, bist duda, mein Baby?“
Augenblicklich war Alastors Sonne wieder untergegangen, und etwas Dunkles, Unheilvolles ballte sich in ihm zusammen. Niko. Ihr Mitbewohner war also tatsächlich ein Mann. Hoffentlich war er wenigstens schwul.
Im nächsten Augenblick war er bei ihr. Sie hatte ihn noch nicht einmal kommen sehen. Mit seinem Gewicht drückte er sie gegen den Türrahmen. Die Rollen hatten sich vertauscht. Jetzt war er das Raubtier und sie die Beute.
„Wir sind hier noch nicht ganz fertig, mein Kätzchen.“
„Ich weiß nicht, was du meinst.“ Doch, sie wusste es ganz genau. Genauso wenig wie er hatte sie den Kuss beim Setnakht-Tempel vergessen. Und gegen den nächsten Kuss, der jetzt unweigerlich folgte, würde sie sich nicht mehr wehren, wenn sie sich nicht gleich zurückzog.
Zärtlich rieb er die Nasenspitze erst an ihrem Nasenflügel und strich damit dann ihre Wange entlang.
Spätestens jetzt war es Zeit für den Rückzug, aber etwas in Naphré war stärker als Vernunft. Oder als die Angst vor einer drohenden Gefahr. Sie schloss die Augen und genoss seine Zärtlichkeit einfach, kostete den Duft seiner Haut und das zarte Flattern seiner Wimpern auf ihrer Wange aus.
Es gefiel ihr. Es gefiel ihr, wie er sie bedrängte, wie er die Lippen sacht ihren Hals entlang gleiten ließ. Mit einem leisen Aufstöhnen ließ sie den Kopf in den Nacken fallen. Sie wollte, dass er sie endlich küsste. Alles war bereit dafür, ihre Lippen, ihre Brüste. Sie sehnte sich danach, dass er sie anfasste.
Es ist nichts – nichts weiter als körperliche Lust, redete sie sich ein. Aber dann fiel ihr ihre erste Begegnung mit ihm an der Tür des Nachtklubs ein. Dieses eigenartige Gefühl – nicht nur, als wären sie sich schon einmal begegnet, nein, als würden sie sich schon lange kennen.
Als Alastor sich plötzlich von ihr zurückzog, gab sie einen unwilligen Seufzer von sich, und er lächelte verschlagen. „Soungeduldig, mein Kätzchen? Das gehört dazu. Ich finde es schöner, sich ein wenig Zeit zu lassen.“ Etwas blitzte in seinen
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