Seelensunde
Anwesenheit nicht darüber sprechen wollte.
„Kein Problem“, meinte Alastor. „Sie kennt die Szene. Sie war Butchers Partnerin.“
Dagans Miene verfinsterte sich. Seine grauen Augen waren so kalt, dass einem das Blut in den Adern gefrieren konnte. Aber bevor er noch etwas sagen konnte, trat Alastor einen Schritt vor. „Lass gut sein, Dae. Wenn es mit ihr etwas zu besprechen gibt, ist das meine Sache. Sie gehört mir.“
Normalerweise hätte Naphré einen Satz wie den letzten nicht unkommentiert gelassen. Nur Dagans Blick ließ sie schweigen, denn solange sie aus diesen Augen gemustert wurde, fühlte sie sich nicht wohl in ihrer Haut.
„Was von Big Ralph kam, war dürftig“, erklärte Dagan endlich. „Nichts als Gerüchte und Hörensagen. Angeblich hat Xaphan eine Mordssumme als Belohnung für jeden ausgelobt, der ihm Informationen über Lokans Mörder liefert.“
„Das würde bedeuten, dass Xaphan und sein Hofstaat nicht in den Anschlag verwickelt sind“, sinnierte Alastor.
„Nicht unbedingt“, warf Naphré ein. Die beiden Männer schauten sie verdutzt an. „Es könnte genauso gut das Gegenteil der Fall sein, und Xaphan ist gerissen genug, auf diese Weise mögliche Zeugen an die Oberfläche zu locken.“ Sie quittierte die Sprachlosigkeit der beiden mit einem Achselzucken. „Ich habe das eine oder andere Mal für Xaphan gearbeitet. Ich kenne seine Winkelzüge.“
„Schön für dich“, konstatierte Dagan. Dann wandte er sich um und ging die Treppe hinunter.
Es war kaum eine Viertelminute vergangen, nachdem Naphré die Tür hinter ihm abgeschlossen hatte, als es zweimal scharf klopfte.
„Sie haben bestimmt etwas vergessen“, sagte Naphré, schloss wieder auf und öffnete die Tür mit einem Schwung. Zu spät bemerkte sie den widerwärtigen Geruch, der ihr entgegenschlug. Sie hörte noch Alastors Aufschrei hinter sich. „Nein!“
Zu spät. Naphré war unfähig zu reagieren. Sie hätte davon laufen, wenigstens zurückweichen sollen, aber das Entsetzliche, das ihr gegenüberstand, lähmte sie vollständig. Wie angewurzelt stand sie da. Unfähig, auch nur einen Fuß zu heben.
Die Gestalt vor der Tür war anscheinend in ein grau schimmerndes Samtgewand gehüllt. Aber der Schein trog. Der weite Umhang war in Bewegung, er lebte. Er zog sich eng um den weiblichen Körper zusammen, den er umgab, um sich im nächsten Augenblick aufzublähen wie ein Ballon. Und was sich da aufblähte, war eine Masse von Millionen Maden, Raupen, Asseln, Tausendfüßlern und winzigen Spinnen, die übereinander und durcheinander krochen und sich umeinander wanden. Wie eine Flutwelle schwappte diese Masse ihr entgegen. Naphré hätte schwören können, dass sie das leise Klicken von Millionen Kauwerkzeugen hörte.
Irgendwo, wie aus weiter Ferne, hörte sie Alastors Stimme, der ihren Namen rief. Obwohl er eben noch höchstens ein paar Meter hinter ihr gestanden hatte, klang es, als sei er Kilometer weit entfernt.
Noch einmal nahm Naphré all ihre Kraft zusammen, aber sie war unfähig, sich auch nur zu bewegen. Das Gewürm hatte sie erreicht. Es war auf ihr und bedeckte sie vollständig. Auf jedem Zentimeter ihrer Haut spürte sie das Krabbeln von Myriaden von haarfeinen Beinchen – auf ihren Händen, im Gesicht, in ihrem Haar. Naphré kniff Augen und Lippen zu, konnte jedochdas Eindringen der Tierchen in ihre Nasenlöcher nicht verhindern.
Man muss keine Angst vor Ungeziefer haben, sagte sie sich immer wieder.
Aber hier handelte es sich nicht um eine Spinne im Badezimmer oder eine Raupe im Abfluss der Spüle. Naphré war in einem lebendigen, wimmelnden Käfig gefangen, der sie mit Kribbeln und Krabbeln peinigte, es war schlimmer als die schrecklichsten Schmerzen.
Naphré wollte schreien, traute sich aber nicht. Denn dazu hätte sie den Mund öffnen müssen, und wie durch ein offenes Tor wäre die Ungeziefermeute eingefallen. Eine panische Angst befiel sie, eine Angst, die ihr den Atem und allen Mut nahm, sich zu wehren.
Noch einmal hörte sie Alastor von weit, weit her. „Naphré! Naphré! Verdammte Scheiße!“
Wie gern hätte sie sich zu ihm umgedreht und die Hand nach ihm ausgestreckt, aber sie konnte sich nicht rühren. Wie gern hätte sie ihn angesehen, aber sie wagte es nicht, die Augen zu öffnen. Und im gleichen Augenblick, da ihr das durch den Kopf ging, spürte sie schon die ersten Füßchen unter ihren Lidern. Endlich öffnete sie doch den Mund zu einem verzweifelten Schrei, und das Volk der Würmer,
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