Seelensunde
Treppe ist das Gästebad.“
Marie war schon aufgestanden und beeilte sich hinzukommen.
„Vier Raupen …“, begann Alastor nachdenklich.
„Fünf“, korrigierte Naphré.
„Meinetwegen fünf. Und das innerhalb von nur einer Stunde. Bist du sicher, dass das nur daran liegt, dass das Haus so alt ist?“
Was hat er bloß mit diesem Ungeziefer, dachte Naphré. Sie zuckte die Schultern. Es hatte wohl jeder seine Macke. Darauf ging sie in die Küche, um sich die Hände zu waschen.
„Was machen wir denn nun mit ihr?“, fragte sie, während sie sich die Hände abtrocknete. Sie rang mit sich. Einerseits fühlte sie sich ein Stück weit für ihre neue Schutzbefohlene verantwortlich. Andererseits wehrte sie sich dagegen, weil sie sich eingeengt fühlte.
Alastor lehnte lässig mit gekreuzten Armen an der Küchenanrichte. „Was meinst du damit – was machen wir mit ihr ?“
„Na ja, hier kann sie nicht bleiben.“
„Dann schick sie nach Hause.“
„Dann sind sie sofort da und holen sie.“
„Das geht natürlich gar nicht.“
Sie war nicht ganz sicher, ob seine letzte Bemerkung ernst oder ironisch gemeint war. „Schön, dass du das genauso siehst.“
„Genauso?“ Er warf ihr einen zweifelnden Blick zu. „Glaub nur nicht, mir liegt aus Selbstlosigkeit oder Mitgefühl so viel daran, dass der kleinen Marie nichts zustößt. Dafür habe ich meine eigenen, sehr persönlichen Gründe, die mit ihr nichts zu tun haben.“
Anscheinend legte er auf sein Image als eiskaltes, herzloses Aas großen Wert. Naphré fragte sich, warum er sich immerwieder diesen Anstrich gab. Vielleicht weil er tatsächlich so ein Aas war?
„Wenn du damit beiläufig andeuten wolltest, dass ich mir keine Illusionen machen soll und der Sex nichts mit Gefühlen zu tun hatte, brauchst du das nur zu sagen. Weil ich …“
„Ich wollte gar nichts andeuten“, unterbrach er sie ungeduldig und warf ihr einen Blick zu, dass sie sich am liebsten verkrochen hätte. Dann griff er in seine Hosentasche und holte sein Handy heraus. Er wählte eine Nummer. Als die Verbindung stand, sagte er: „Ich habe hier ein Problem. Es geht um eine Frau. Sag Roxy Bescheid und bring sie mit.“ Er lauschte eine Weile, was sein Gesprächspartner am anderen Ende zu sagen hatte. Dann verzog er den Mund zu einem schiefen Lächeln. Eine Falte zeichnete sich auf seiner Wange neben dem Mundwinkel ab. „Nein, ich habe nichts mit ihr zu schaffen.“ Dann beendete er grußlos das Gespräch.
Naphré hatte aufgehorcht, als sie den Namen gehört hatte. Sie würde also Roxy Tam persönlich kennenlernen. Naphré hatte die Isisgarde schon ein paar Jahre verlassen, bevor Roxy dazugestoßen war, dennoch hatte sie von ihr gehört. Man schnappte einen Namen auf, Geschichten machten die Runde. Nach allem, was ihr zu Ohren gekommen war, musste Roxy eine ziemlich toughe Frau sein. Wäre Naphré bei der Garde geblieben, hätten sie dieselbe Mentorin gehabt, Calliope Kane.
„Wen auch immer du herbeizitiert hast, er wird es nicht leicht haben herzufinden. Du hast vergessen, ihm eine Adresse zu geben.“
„Brauchen wir nicht“, antwortete Alastor und trat einen Schritt auf sie zu.
Unwillkürlich stieg Naphrés Puls. „Aber wie …?“
„Meine Brüder und ich stehen miteinander immer in Verbindung. Wir haben ein gewisses Gespür füreinander, vor allem wenn einer von uns in Schwierigkeiten steckt.“ Er kam noch ein wenig näher. „Wenn es sein muss, wissen wir immer, wo sich der andere gerade aufhält.“
„Haben alle Seelensammler diese Fähigkeit, oder nur du und deine Brüder?“ Ihr Atem ging schneller, je näher er kam. Sie wartete darauf, hoffte …
Beim Lächeln zeigte er seine strahlend weißen Zähne. „Du willst es ja ganz genau wissen, mein Kätzchen.“ Er beugte sich über sie und streifte mit der Wange ihr Haar. Genussvoll sog er dessen Duft ein.
Sie erstarrte vor ihm wie das Kaninchen vor der Schlange. „Wenn ich kann“, stammelte sie. „Wissen ist Macht.“
Er drängte sie gegen die Kante der Arbeitsplatte aus Granit. „Größe ist Macht“, flüsterte er ihr ins Ohr, „und Stärke. Und Klugheit. Und Verbündete. Macht ist von vielen Faktoren abhängig.“
Naphré hob den Kopf und biss ihm zärtlich ins Ohrläppchen. „Also?“
Alastor lachte leise in sich hinein. „Nein, diese Fähigkeit haben nur wir, meine Brüder und ich.“
Er zog sich ein paar Zentimeter zurück und betrachtete sie aufmerksam. Seine Augen funkelten. Fast unmerklich hob
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