Seelensunde
Unterwelt.
Schließlich fragte Naphré die Shikome: „Warum wünscht Izanami, mich zu sehen?“
„Izanami wünscht, dich zu sehen. Ich frage nicht nach ihren Gründen.“
Izanami wünschte, sie zu sehen? Bei Alastor schrillten plötzlich die Alarmglocken. Hier stimmte etwas nicht. Es war ja nicht Izanami, die zu Sutekh gekommen war und die Naphrés Namen in seinem Buch gelesen hatte. Es war die Shikome gewesen. Und mit der Shikome war auch die Vereinbarung „Seele gegen Seele“ getroffen worden. Sie war es schließlich auch, diedie Bedingung gestellt hatte, dass Naphré ihn begleiten sollte, wollte er Izanami sehen. Izanami selbst war bei dieser ganzen Angelegenheit überhaupt nicht im Spiel gewesen.
Alastor wollte etwas dazu sagen, besann sich aber. Warum sollte er jetzt schon die Karten auf den Tisch legen? Sollte die Shikome ruhig glauben, er hätte noch nicht gemerkt, dass an der Geschichte etwas oberfaul war.
„Wenn Izanami von mir erwartet, dass ich für längere Zeit ihr Gast sein werde, muss ich sie enttäuschen“, bemerkte Naphré kühl. „Ich gehöre schon jemandem anderen.“
„Das ist bekannt.“ Die Shikome deutete auf das Mal an Naphrés Schulter, das unter den Trägern ihres schwarzen Tops zu sehen war. Bei der Geste fielen ihr einige Tausendfüßler von der Hand, die in Naphrés Richtung über den Boden krochen. Naphré schaute der Shikome ins Gesicht beziehungsweise auf jene Stelle, an der man ihr Gesicht vermuten sollte, hob langsam den Fuß und zertrat, ohne den Blick abzuwenden, einen der Würmer. Alastor konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er bewunderte Naphrés Kühnheit.
Als sie den Fuß wieder hob, waren zu ihrem Erstaunen auf dem blanken Parkett keine Überreste des Ungeziefers zu sehen. Auch das andere Gewürm, das herabgefallen war, war verschwunden.
„Izanami kennt deine Herkunft“, sagte die Shikome. „Sie weiß um die Wendungen in deinem Leben – und um deine Fehler.“
Wobei der schwerwiegendste dazu geführt hat, dass dein Name in Sutekhs Buch steht, dachte Alastor, während er Naphré anschaute. Er konnte sich noch daran erinnern, wie die Shikome angeschwollen war, als sie den Namen entdeckt hatte.
„Du gehörst der Isisgarde nicht mehr an“, fuhr die Shikome fort.
Wie Roxy, dachte Alastor. Es war nicht anzunehmen, dass Roxy und Naphré wichtigere Funktionen in der Garde bekleidet hatten, sonst hätten sie sie bestimmt nicht gehen lassen.
„Wenn Naphré freiwillig mit zu Izanami kommt“, schaltete er sich ein, „ist dann garantiert, dass sie das Totenreich wieder verlassen kann, wenn sie es will?“
„Ich bin nicht befugt, für Izanami zu sprechen“, antwortete die Shikome.
Er kannte diese ausweichenden Antworten und gab sich nicht damit zufrieden. „Was wäre denn deine realistische Einschätzung?“
„Wenn sie keine der Speisen der Unterwelt anrührt, wird niemand sie dort auf Dauer festhalten können.“
„Das ist wieder nicht die Antwort auf meine Frage.“
„Eine andere kann ich nicht geben.“
„Du hättest in die Politik gehen sollen“, sagte Alastor leise. Dann platzte es aus ihm heraus: „Dann kommt sie eben nicht mit.“ Er hatte es ausgesprochen, bevor er zu Ende überlegt hatte. Aber sobald es heraus war, erschien es ihm als die einzig mögliche Entscheidung. Er konnte Naphré keinem Risiko aussetzen. „Ihr könnt mich an ihrer Stelle haben.“
Eine längliche Öffnung wurde in der grauen, rastlosen Masse sichtbar, die das Gesicht der Shikome darstellte. Es sollte wohl so etwas wie ein Lächeln darstellen. „Das ist ausgeschlossen. Das Treffen der Großen der Unterwelt rückt näher. Sollte Izanami dich zu sich nehmen, stände das Ergebnis des Treffens schon im Vorneherein fest.“
Auch wieder wahr.
Eine fette Raupe löste sich vom Fuß der Shikome und kroch über den Boden. Im nächsten Augenblick war sie verschwunden. Alastor starrte auf den Fleck, wo er sie gesehen hatte. Etwas anderes fiel ihm auf. Er atmete vorsichtig durch die Nase. Es stimmte. Der abscheuliche Gestank, den die Shikome sonst verbreitet hatte, war anscheinend verflogen.
„Was soll das eigentlich?“, meldete sich Naphré unwillig zu Wort. „Ich stehe hier, und ihr redet über mich, als wäre ich gar nicht anwesend. Du triffst Entscheidungen, die mich betreffen“, wandte sie sich dann an Alastor. „Wer gibt dir das Rechtdazu? Ich treffe meine Entscheidungen immer noch selbst, Alastor Krayl.“
Alastor öffnete den Mund und klappte ihn gleich
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