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Seelentraeume

Seelentraeume

Titel: Seelentraeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilona Andrews
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weite morastige Ebene schon jetzt endlos vor. Als würde sie in einem überlangen Albtraum ihrem Tod entgegengehen. Wind kam auf und blies ihr den Salzgeruch des Meeres ins Gesicht.
    Sie dachte an Tulips aschgraue Augen, an Éléonores verkohlten Leichnam und an Georges quälende Stimme. »
Bitte, Mémère …
«
    Sie würde dem ein Ende machen. Um welchen Preis auch immer.
    Eine Ewigkeit später wich das Marschland Sanddünen, mit struppigem Strandhafer gespickt und von Flecken kurzen Kriechgrases mit breiten Blättern bekrönt. Zwischen den Blättern wuchsen dünne, grün leuchtende Stängel, die den Staubgefäßen von Wasserlilien ähnelten. Als der Wind zwischen sie fuhr, schwankten sie und entließen leuchtend grüne Punkte in die Nacht.
    »Nicht drauftreten«, sagte Miko neben ihr. »Das ist Fischerfallengras. Es würde Ihnen die Beine verbrennen.«
    Sie durchquerten die Dünen und kamen endlich zum Strand. Dunkel und drohend lag das Meer vor Charlotte. Links bildete der Bogen der Küste eine kleine Halbinsel mit Bäumen, die ihnen den Ausblick versperrten. Rechts schimmerten wie eine Luftspiegelung die fernen blaugrünen Lichter von Kelena über dem Wasser.
    »Drei Fackeln«, sagte Richard. »Eine vorne, zwei hinten, Abstand etwa sechs Meter.«
    Ein »Sklavenhändler« rechts von ihr glitt vom Pferd, nahm drei Fackeln aus seiner Satteltasche, rannte nach vorne, bohrte die erste in den Sand und zündete sie an.
    »Es ist eine finstere Nacht«, sagte Jason.
    »Die Dunkelheit spielt uns in die Hände«, meinte Richard.
    Fackel Nummer drei brannte. Sie warteten.
    Der Hund streunte nach hinten, die Kette streckte sich, und er leckte Charlottes Hand.
    Da tauchte hinter der Halbinsel der dunkle Schatten einer Brigantine auf.
    George lag oben auf einer Düne auf dem Bauch, vor sich im Sand einen kleinen schwarzen Kasten. Unten am Strand warteten die falschen Sklavenhändler und ihre »Gefangenen«. Weiter hinten ging die Brigantine vor Anker. Ein Schiff im Stil des Weird, mit sechs segmentierten Masten, die im Halbkreis aus dem Deck ragten wie die Flügel eines zum Flug ansetzenden Wasservogels. An den Masten graugrüne Segel. Auf See verschmolzen die Segel mit dem Himmel und verbargen das Schiff vor neugierigen Blicken.
    Mémère war tot. Er hatte sie vor sechs Monaten zuletzt gesehen. Sie hatte sie eine Woche lang in Midwinter besucht. Er erinnerte sich an ihr Gesicht, als wäre er ihr erst gestern begegnet. Er rief sich ihr Lächeln ins Gedächtnis. Den Lavendelduft, der sie stets umgab. Er kannte diesen Geruch so gut, dass ihn ein Hauch davon noch Jahre später sofort beruhigte.
    In seiner Kindheit war Mémère eine Konstante in seinem Leben gewesen. Seine Mutter war ein dunkler Fleck in seiner Vergangenheit. An seinen Vater, einen großen, komischen Mann, konnte er sich besser erinnern. Als George acht war, lud ihn ein Freund aus dem Broken zu sich nach Hause ein. Dort hatte er sich Filme anschauen können, und als er die Hüllen durchging, stieß er auf einen Mann, der eine Lederjacke und einen Hut mit breiter Krempe trug und eine Peitsche schwang. Der Filmtitel lautete
Jäger des verlorenen Schatzes
. Beim Lesen der Beschreibung ging ihm auf, dass dieser seltsame Mann, Indiana Jones, dasselbe tat wie sein Vater. Beide waren Schatzsucher.
    Er hatte sich den Film zweimal hintereinander angesehen, vermutlich der Grund dafür, dass er nie wieder eingeladen wurde. Mit zunehmendem Alter war eine neue Sichtweise in ihm gereift. So sehr er es sich auch wünschen mochte, sein Vater war nicht Indiana Jones. Sein Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, als sie ihn am meisten brauchten, und Rose damit gezwungen, ganz allein die Verantwortung für ihre Brüder zu übernehmen. An manchen Tagen kam sie so müde nach Hause, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte – einmal war sie sogar in der Küche beim Kartoffelschälen eingeschlafen.
    Doch Mémère war immer da. Ihr Haus diente ihnen als sichere Zuflucht. Ganz gleich, wie viel Mist er gebaut hatte oder wie sauer Rose auf ihn war, Mémère war immer für ihn da gewesen. Auch als sich seine Magie zum ersten Mal gezeigt hatte. Da war er drei gewesen. Er hatte im Garten gespielt und ein Eichhörnchen entdeckt. Mit buschigem Schwanz und weichem rotem Fell, und es schien überhaupt keine Angst vor ihm zu haben. Es saß einfach so auf einem Baumstamm. Er wollte das Tier streicheln, also ging er näher und näher heran, ein kleiner Schritt nach dem anderen. Er war

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