Seelentraeume
fast da, als das Eichhörnchen vom Stamm fiel und starb.
Er hatte den pelzigen Körper aufgehoben. Damals wusste er nicht genau, was der Tod war. Er sah lediglich, dass das Tier sich nicht bewegte. Und er wollte, dass es sich bewegte, aber das tat es nicht. Es lag schlaff in seiner Hand wie ein kaputtes Spielzeug. Er erinnerte sich noch an sein außerordentliches Entsetzen. Einen Moment lang glaubte er, selbst auch zu sterben, so wie das Eichhörnchen, doch dann zog etwas schmerzhaft an ihm und das Eichhörnchen drehte sich herum und sah ihn an.
Er ließ es fallen und rannte durch den Garten und die Veranda hinauf. Er hatte wohl geschrien, denn seine Großmutter kam nach draußen gelaufen und hob ihn hoch. Er vergrub das Gesicht an ihrer Schulter, und sie schloss ihn in die Arme. Der Geist ihrer Stimme flatterte durch seine Erinnerung: »Alles wird gut. Es ist eine Gabe, Georgie. Du musst keine Angst davor haben. Es ist eine Gabe …«
George biss die Zähne zusammen. Vor sechs Monaten hatte er sie abermals gebeten, ins Weird umzuziehen. Sie hatten auf dem Balkon gesessen und Tee getrunken. Sie wollte noch am selben Tag ins Edge zurückkehren, und ein Vorgefühl der Gefahr drohte ihn schwer wie eine nasse Wolldecke zu ersticken. In seinen Gedanken sah sie genauso aus wie damals, als er noch klein gewesen war, doch wenn sie ihn zuletzt besuchte, bemerkte er jedes Mal neue alarmierende Veränderungen. Ihr Haar wurde dünn. Ihre Runzeln gruben sich immer tiefer ins Gesicht. Und sie schien geschrumpft zu sein. Das alles machte ihn krank vor Sorge.
»Bitte bleib«, bat er.
»Nein, Schatz. Ich lebe im Edge. Dort gehöre ich hin. Es ist sehr schön hier, aber für mich ist das nichts.«
Er hatte ihr an dem Morgen beim Einsteigen in den Phaeton geholfen. Und sie hatte ihn zum Abschied geküsst.
Er hätte mehr tun müssen. Er hätte beharrlich bleiben und sie zum Bleiben zwingen sollen. Wenn er sie angefleht hätte, wäre sie bestimmt geblieben. Wie hatte er nur so sorglos und dumm sein können? Und jetzt war sie tot. Er wusste nicht mal genau, wie sie gestorben war, etwa bei lebendigem Leib in diesem verfluchten Haus verbrannt … Er schloss fest die Augen, um den Ansturm der Tränen zu bremsen.
Er würde es Rose sagen müssen.
Von der Brigantine wurden zwei Boote zu Wasser gelassen. Die Menschen am Strand übten sich in Geduld.
»Wir müssten da unten sein«, meinte Jack neben ihm.
Waren sie aber nicht. Von den Brüdern Mar war Kaldar der anpassungsfähigere, seine Moralvorstellungen waren elastisch, und er hängte sein Mäntelchen gerne in den Wind. Doch George hatte im vergangenen Jahr bei Richard Schwertkampfunterricht genommen. Richard war wie ein Fels in der Brandung. Unbeweglich und standhaft. Ein Blick in seine Augen hatte George verraten, dass er seinen Willen nicht bekommen würde. Nicht dieses Mal.
George arbeitete nicht mehr im Auftrag des Spiegels. Er hatte es gründlich vermasselt. Jason Parris hatte ihn als adrianglianischen Agenten enttarnt, sein Entlassungsgesuch war bereits auf dem Weg zur Einsatzleitung. Erwin wäre sicher nicht erfreut, doch die Enttäuschung seines Agentenführers stellte momentan seine geringste Sorge dar. Er würde zusehen, wie Richard und Charlotte an Bord dieses Schiffes gingen, anschließend würden er und Jack wie brave, kleine Kinder nach Hause laufen müssen. Innerlich musste er schreien.
Die Boote lösten sich vom Schiff, wurden von magiegetriebenen Motoren übers Wasser katapultiert. Magische Rückstände von den Schrauben verwandelten ihr Kielwasser in eine grüngelbe Leuchtspur.
Am Heck der Brigantine züngelten kleine grüne Blitze. Es gab also einen Schutzschirm, der soeben aufgespannt wurde. Natürlich. Die Südmeerflotte von Adrianglia verfügte über drei Schiffe der Korsar-Klasse, fünf Jäger und ein Schlachtschiff zur Luftunterstützung. Jedes dieser Schiffe hatte Pulverisierungsgeschütze sowie eine Menge anderes tödliches Spielzeug an Bord. Eine leichte zivile Brigantine wie diese würde nicht mehr als ein, zwei Treffern standhalten. Da war es am besten, sich schnell und möglichst unbemerkt zu bewegen, und dazu erwies sich der Schutzschirm als nützlich.
Aber so ein Tarnschirm war auch höllisch kostspielig. Der Sklavenhandel musste ein einträgliches Geschäft sein. George knirschte abermals mit den Zähnen.
Jack senkte seine Stimme zu einem boshaften Knurren. »Hör auf, so zu knirschen.«
»Klappe«, zischte George zurück.
»Das
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