SeelenZauber - Die Wahrheit (German Edition)
ging. X = Zehn.
Das war es! Die letzte Zelle lag unter ihr. An der unteren Seriphe des X fand sie einen Hebel, der wie eine lange Weiche aussah. Sie zog an dem Griff. Langsam senkte sich mit dem typischen Reibegeräusch von Stein auf Stein eine steile Rampe nach unten. Anstelle von Stufen hatte man lange Querkanten gemeißelt, damit man auf dem Gefälle nicht ins Rutschen kam. Und noch etwas musste der Hebel ausgelöst haben. Denn dort unten gingen Lichter an.
Nilah glaubte, ihr ganzer Brustkorb bestehe nur noch aus ihrem Herzen, so allgegenwärtig war das Wummern jetzt. Sie umfasste den Stiel des Hammers fester und ging seitwärts, immer darauf achtend, dass ihre Füße an den Kanten Halt fanden, nach unten.
Sie betrat einen halbkreisförmigen Tunnel. Der in dem Brief erwähnte Schienenstrang lag vor ihr und verlor sich nach einer Biegung. Anscheinend hatten sie die lebende Statue die breite Rampe herunter befördert, durch den Tunnel gezogen und hier irgendwo eingesperrt, weil die Zellen oben zu klein gewesen waren.
Lampen, die von kreuzförmigen Nietenbändern geschützt waren, damit sie nicht zu leicht beschädigt werden konnten, waren in regelmäßigen Abständen an den Seitenwänden angebracht. Viele funktionierten nicht mehr. Einige Bänder waren verbogen, Glashüllen zerbrochen, andere sahen aus, als hätte eine mächtige Faust sie wie Pappmaché in die Wand gedrückt.
Wachsam folgte Nilah den Schienen, den Hammer halb zur Verteidigung erhoben und erreichte nach wenigen Kurven etwas, das ihren Verstand für einen Moment betäubte.
Als hätte man die Oberfläche eines Igels oder eines gigantischen, mittelalterlichen Morgensterns einfach umgestülpt, lag vor ihr ein kugelförmiger Hohlraum mit etwa dreißig Metern Durchmesser, aus dessen Wänden viele hunderte geschmiedete schwarze Speerspitzen tief nach innen ragten. Der Anblick war monströs und grauenvoll. Eine alte Erinnerung streifte Nilah. Sie hatte schon einmal, an einem anderen Ort, voller Bestürzung die Folterphantasien von Menschen besichtigt. Sie hatte mit spitzen Nägeln übersäte grobe Stühle gesehen, eine in menschlicher Form gestaltete, aufrecht stehende Metallhülle. Auch dort waren an den Innenseiten Nägel gewesen und irgendjemand hatte sich kichernd und feixend darüber amüsiert. Aber das hier, das hatte etwas, das alle Gewalt überstieg, weil es auch noch geradezu wilden Stolz ausstrahlte, der wie ein glänzender Lack haften geblieben war. Stolz darauf, etwas so Grausames nicht nur geschaffen zu haben, sondern es auch mit Inbrunst zu benutzen. Jeder Atemzug in dieser Kuppel stank nach Leid, klebriger Trauer und purer Hoffnungslosigkeit. Als wäre jedwedes Molekül des Lebens von diesem Ort entflohen oder daran erstickt. Nilahs Magen verkrampfte sich mit galliger Übelkeit.
In der Mitte der Kugel lag etwas Großes und die Piken waren so darüber verteilt, dass sie ausnahmslos seiner Form angepasst waren. Es sah so aus, als hätte zuerst die Statue dort gelegen und die Peiniger hätten dann von außen jeden Pfahl so weit durch die Wände getrieben, bis jeder einzelne nur noch Zentimeter von der jeweiligen Körperstelle entfernt war. Jede Bewegung war damit ausgeschlossen oder endete damit, dass sich die entsprechenden Piken eben genau dort hineinbohrten, wo sich der Körper regte.
Nilah trat näher und als hätte sie einen weiteren im Boden verborgenen Auslöser betätigt, glitten einige der eisernen Piken lautlos zurück und hinterließen eine schmale Gasse, die bis zur Mitte führte. Langsam schritt sie den Gang entlang, vorbei an dem Wald aus schwarzen, spitzen Schatten.
Als sie sehen konnte, was dort eingezwängt vor ihr lag, gefoltert, geschunden und angekettet, da sank sie auf ihre Knie und weinte stumm. Kein Schluchzen drang aus ihrer Kehle, kein Zittern durchfuhr sie. Nilah kniete einfach da und ließ allen Kummer und alle Pein zu lautlosen Tränen werden.
Vor ihr lag – ein Drache.
Ihre Augen weigerten sich hinzusehen. Doch Nilah zwang sie, genau das zu tun.
Ihre Augen sahen einen Drachen. Ihr Verstand begriff, dass von ihm nicht mehr viel übrig war, und ihr Herz wollte einfach nur helfen. Wollte verstehen, was man mit diesem Wesen angestellt hatte.
Die Schnauze des Drachens wurde von mehreren Stahlbändern zusammengehalten. Wie ein doppelt- und dreifach gesicherter Maulkorb, aber die Konstruktion, die sie über seinen Kopf geschmiedet hatten, wirkte geradezu sadistisch. Wie eine rostige Haube aus Drähten,
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