SeelenZauber - Die Wahrheit (German Edition)
gelassenen grauen Augen und darunter eine spitzfindige Nase. Die flaumigen Haare oder was von ihnen noch da war, ebenfalls in einem Steingrau. Ein bis zu den Knien reichender Gehrock, rot und mit einem stilisierten weißen Drachen darauf, der sich um das ganze Gewand schlang. Schwarze Hosen und gut polierte braune Schuhe. Eine Gentleman-Erscheinung durch und durch. Allerdings hatte Nilah das Gefühl, dass der Mann zum Lachen in den Keller ging und sich besser mit Worten und Blicken verteidigen konnte, als manch anderer mit einer Waffe.
Der Raum war wunderschön. Die wenigen Möbel schienen aus Speckstein geformt und geschliffen worden zu sein. Farbige Adern liefen durch sie hindurch. Es gab einen großen Schrank, eine Schminkkommode mit einem reich verzierten Spiegel darüber und auch die Lampen waren aus Stein, die Schirme allerdings so hauchdünn, dass sie das Licht durchließen. Ein großer gemauerter Kamin, der wie der geöffnete Schlund eines Drachen geformt war, beherrschte den Rest des Zimmers.
Rolf öffnete den Schrank und nahm ein sandfarbenes Kleid heraus und legte es sich wie ein Verkäufer über den Unterarm.
»Ich habe es extra ändern lassen. Dies dürfte nun passen«, sagte er und hielt ihr den Arm mit dem Kleid entgegen.
»Ändern lassen?«, murmelte Nilah, während sie am Zeremonienmeister vorbei in den Schrank spähte und lauter Kleidungsstücke dort hängen sah, die wie aus der Kinderabteilung wirkten.
»Nun, seit Ihr das letzte mal hier in Eurem Turmzimmer wart, Hoheit, sind einige Jahre vergangen. Ihr seid tüchtig gewachsen, wenn ich das so sagen darf. Und voller Stolz, wie ich noch hinzufügen möchte.« Er grinste ein wenig verlegen bei diesen Worten, aber an seinem Gesichtsausdruck konnte sie erkennen, dass er wirklich so empfand, was sie nicht minder stolz machte.
Sie verschwand hinter einem Paravent und zog sich um. Als sie mit dem Kleid, das sich wie Wind auf der Haut trug, wieder hervorkam, lächelte Rolf wissend und nickte anerkennend. Nilah tappte zum Spiegel und bewunderte den feinen Stoff. Ganz feine Muster durchliefen ihn, als würden weit entfernte Dünen darüber wandern. Und der breite blaue Gürtel, der ihre Hüften so vorteilhaft betonte, sah damit wie ein Fluss in einer Wüste aus.
Sie nahm eine weiche Bürste und kämmte sich den Schlaf aus den zerstrubbelten Haaren, während sie sich immer wieder drehte, um sich von allen Seiten zu betrachten. Selbst der von ihr so argwöhnisch beäugte Po wirkte in dem Kleid wie von einer Popsängerin. Sie beschloss, das Haar heute mal offen zu tragen.
Rolf räusperte sich und Nilah drehte sich zu ihm um. Der Zeremonienmeister hielt nun ein kleines Tablett in der Hand, auf dem eine Kette mit einem Anhänger lag. Die Kette wirkte, als hätte man viele dünne Spinnfäden ineinander verflochten und der Anhänger sah aus wie dunkelblaues Glas, das geschmolzen und dann recht unförmig erstarrt war. Als Nilah es näher betrachtete, glaubte sie, in dem Anhänger Wellen zu erkennen. Wie ein dreidimensionales Bild von einem in plötzliche Starre gefallenen Ozean. Es war ein unglaublicher Anblick und wunderschön dazu. Sie warf Rolf einen fragenden Blick zu, der mit einer erhobenen Augenbraue antwortete, als sei er auch nicht sicher, was das Ding sein sollte.
»Der Drache hat es dagelassen. Er sagte:»Wenn jemand diesen Schmuck erkennt, dann fürchte seine Macht. Es ist eine alte, ruhelose Macht!« Rolf verzog das Gesicht, aber Nilah nahm die Kette, legte sie sich um den Hals und vergaß sie gleich wieder.
Sie trat an eines der ovalen Fenster und wunderte sich, dass gar keine Scheiben darin waren. Der Blick war traumhaft. Sie war offensichtlich im oberen Teil eines runden Turmes, der, wie sie feststellte, als sie sich vorbeugte, auch noch auf einer Klippe stand. Weit unter ihr wogte ein azurblaues Meer, das sich bis zum Horizont erstreckte. Ein breiter Sandstrand lag wie eine geöffnete Hand in der Bucht und wilde knorrige Kiefern wuchsen aus bizarren Felsen, die sich allesamt dem Meer zuneigten. Der Duft von Salz, Stein und Bäumen ließ sie beinahe taumeln, so sehr rüttelte er an ihrem Geist, bis Rolf mit einem dezenten Räuspern sie zurücktreten ließ.
»Warum habe ich hier keine Höhenangst?«, fragte sie verwundert.
Der Sekretär zog eine Augenbraue nach oben, sah sie einen Moment musternd an und seufzte leise.
»Ich weiß, es plagen Sie viele Fragen über dieses Thema, aber ich bin nicht der richtige Ansprechpartner dafür. Sie
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