Seelenzorn
rote Flüssigkeit quoll aus dem Rohr, als sie die Manschette lockerte. Auch hier würde sie erst die Fliesen aufstemmen und die Wand öffnen müssen, um ganz sicherzugehen, aber jetzt, wo sie darüber nachdachte, kam es ihr vollkommen simpel vor. Ein einfacher Druckschalter oder Sensor im Fußboden. Eine Pumpe in der Wand. Schon mit den Grundkenntnissen eines Klempners ließ sich das bewerkstelligen.
Wahrscheinlich gab es auch noch irgendwo eine Zeitschaltuhr, um die Effekte ein wenig zu variieren. Zum Beispiel die Szene mit dem Mann; die hatte Chess am ersten Tag gar nicht gesehen. Aber das konnte natürlich auch am Licht gelegen haben, das durch das Fenster fiel. Es spielte eigentlich keine Rolle.
Sie drehte die Manschette wieder fest, öffnete das Fenster, um den Rauch abziehen zu lassen, und machte sich daran, die roten Spritzer auf den Fliesen zu beseitigen, wobei sie zur späteren Analyse eine kleine Probe davon in einem sterilen Glasgefäß mitnahm. Sie war noch nie auf den Gedanken gekommen, für ihre Allergie dankbar zu sein, aber jetzt war sie's. Wer weiß, wie lange sie noch gebraucht hätte, um dahinterzukommen, wenn sie auf das Gas nicht so empfindlich reagiert hätte?
Die Sache war schlau eingefädelt. Aber Schläue war nicht alles, man brauchte auch ein Quäntchen Glück, und früher oder später verließ jeden das Glück.
Sie schauderte, als sie die Papierhandtücher auswrang und die schwelenden Späne damit löschte. Früher oder später verließ jeden das Glück. Sie hoffte nur, dass sie jetzt nicht gerade an der Reihe war.
21
Die Entscheidung liegt bei dir: Entweder führst du
ein Leben im Licht der Wahrheit, oder du drückst dich
im Dunkel herum.
Das Buch der Wahrheit, »Veraxis«, Artikel 71
Von wegen. Mit ihrem Glück war es bald vorbei, als sie auf dem Flur Oliver Fletcher in die Arme lief und seinem Drängen nachgab, sich mit ihm in Rogers Büro »einmal genauer zu unterhalten«.
Als sie die Fotos ein zweites Mal durchging, tat sie es so hastig, als könnte sie das Abgebildete damit zum Verschwinden bringen. Hier saß sie auf der Wohnzimmercouch und rauchte eine dicke Tüte. Dort kauerte sie hinter einem Autoreifen und sniefte ein Näschen voll von der Haarklammer. Dann stand sie mit Terrible auf der Straße und warf ein paar Pillen ein. Und so weiter.
Fuck. Oh Fuck, oh Fuck, oh Fuck, oh Fuck.
Sie holte tief Luft und versuchte, möglichst gelassen zu wirken, als sie Fletcher die Fotos wieder rüberschob. Tschüss, neues Auto. Tschüss, Heizkörper im Schlafzimmer. Tschüss, letzter Rest von Anstand. »Was soll ich für Sie tun?«
»Das ist doch wohl offensichtlich. Ich besitze diese Bilder, und ich meine, dass sie für Ihren Arbeitgeber von größtem Inter...«
»Ja, schon klar. Ich will wissen, was ich für Sie tun soll. Soll ich lügen und behaupten, es wäre eine echte Geistererscheinung? Oder soll ich es jemand anderem in die Schuhe schieben?«
Fletcher, jetzt total geschäftsmäßig, beugte sich vor. »Was halten Sie für das Beste?«
»Meinen Sie das ernst?«
»Natürlich. Sie sind doch diejenige von uns beiden, die sich mit so was auskennt. Was raten Sie mir? Was für Beweise müssten Sie liefern, wenn sie behaupten wollten, es wäre eine echte Heimsuchung? Wie müssten sie das belegen?«
Ha, als ob sie solche Infos rausrücken würde, nur damit er so ’ne Scheiße bei nächster Gelegenheit noch mal abziehen konnte. Kleiner Nebenverdienst mit Kirchenbeschiss, was? »Kommt ganz drauf an.«
»Egal, was Sie brauchen, ich kann es besorgen. Dass ich dazu in der Lage bin, dürfte wohl offensichtlich sein.«
»Hm-hm.«
»Sie müssen schon zugeben, dass es um Längen besser war, als die Ideal-Standard-Version einer falschen Erscheinung.«
Was sollte denn die Scheiße jetzt? »Wollen Sie jetzt noch ’n Lob oder was? Ich guck mir Ihre Filme nicht an, Mr Fletcher, also erwarten Sie bitte auch keinen Beifall, okay?«
»Werden Sie doch nicht gleich so unhöflich.«
»Ach, lassen Sie doch den Scheiß.« Sie schnappte sich Ihre Handtasche und fischte die Kippen heraus. Noch bevor sie sich den Filter zwischen die Lippen geklemmt hatte, wedelte er ihr schon mit dem Feuerzeug vor der Nase rum, als wären sie bei einem Date oder so.
Sie ließ sich trotzdem von ihm Feuer geben. »Also, was soll das? Wozu das alles?«
»Wozu? Ich ...« Er schüttelte den Kopf und griff nach seinem Glas. Es war ihr vorher gar nicht aufgefallen, aber jetzt roch sie den Whiskey darin. »Ich meine,
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