Seepest
irgendwann wieder auf, wenn alles Fleisch zersetzt ist.
Jedenfalls lässt sich die Liegezeit einer Leiche gerade über die aktive
Zersetzung durch Insekten bestimmen …«
»Insekten?«, stieß die Öchsle mit schriller Stimme
hervor.
»Insekten und Maden«, nickte Wolf gemütlich. »Für die
ist faulendes Gewebe geradezu eine Leibspeise …«
Nun war es an Marianne, fluchtartig zu verschwinden.
»Speckkäfer und Goldfliegen zum Beispiel und all die
anderen nützlichen Helfer …«
In diesem Augenblick piepste ein Handy. Alle sahen
sich an. Erst nach geraumer Zeit realisierte Wolf, dass das Piepsen aus seiner
Jackentasche kam, und entschuldigte sich, bevor er das Gespräch annahm.
»Ah, Frau Winter. Sie schickt …« Gerade noch
rechtzeitig brach er ab. »Sie schickt der Himmel«, hatte er sagen wollen. »Sie
haben was geschickt bekommen? – Was soll das heißen,
eine Botschaft? – Um Gottes willen, lassen Sie alles, wo es ist. Ich bin in ein
paar Minuten bei Ihnen. Ende.«
Wolf erhob sich abrupt und schob seinen Stuhl unter
den Tisch, bedauernd hob er die Hände. »Tja, meine Damen, tut mir schrecklich
leid, aber die Pflicht ruft. Dringender Einsatz. War schön, mit Ihnen zu
plaudern. Wo trifft man heute noch derart interessierte und vor allem gut
informierte Gesprächspartner. Vielen Dank noch mal … und tschüss!«
Er war schon unter der Tür, als er sich umdrehte und
noch einmal an den Tisch zurückkehrte, um sich mit gierigen Augen eine
Djerba-Dattel im Speckmantel und eines der Spießchen zu greifen. »Superlecker,
Frau Öchsle, ehrlich! Das macht Ihnen so schnell keiner nach. Also dann, nichts
für ungut, meine Damen.«
Weg war er.
Im Hinausgehen schob Wolf sein Barett etwas zurück und
kratzte sich am Haaransatz. Eines war sonnenklar: Künftig würde er lieber
hungers sterben, als sich noch einmal auf eine solche Einladung einzulassen!
Erleichtert fingerte er seine Gitanes aus der Tasche
und zündete sich eine an, bevor er leise pfeifend die Treppe hinabstieg. Als er
die Haustür erreichte, sah er auf die Uhr: zehn vor acht. Wenn er für die Sache
bei der Winter längstens eine Viertelstunde ansetzte, dann konnte er um halb
neun in der »Krone« sitzen, einen Rostbraten mit Zwiebeln vor sich … oder nein,
doch lieber ein Eglifilet mit Petersilienkartoffeln und dazu ein Viertele
Meersburger Roten. Niemand würde ihn blöd anreden, und endlich könnte er seinen
Gedanken nachhängen.
***
Die
Hektik im Redaktionsbetrieb des »Seekurier« hatte nachgelassen, Punkt zwanzig
Uhr waren die letzten Beiträge an die Technik gegangen. Karin Winter war eine
der wenigen, die noch an ihrem Schreibtisch saßen; Manu hatte sie schon vor
einer halben Stunde heimgeschickt. Sie hielt einen kleinen Spiegel in der Hand
und zog sich die Lippen nach. Aus dem Nebenraum tönte die lauter werdende
Stimme des Chefs vom Dienst. Er telefonierte, offenbar war er mit einer
Headline im Lokalteil nicht einverstanden.
Wo Wolf nur blieb? Fünf Minuten wollte sie ihm noch
geben.
Das Telefonat mit ihm ging ihr nicht aus dem Kopf.
Wieso hatte er so seltsam reagiert? Es schien ihr, als wäre er völlig von der
Rolle gewesen! Umso gespannter war sie auf seine Erklärung.
Endlich, um fünf nach acht, kam er angehastet.
»Tut mir ehrlich leid, Frau Winter, ich musste noch an
der Tankstelle vorbei.«
»Kein Benzin mehr im Tank?«, fragte sie grinsend.
»Nein, kein Bier mehr im Kühlschrank. Aber egal, jetzt
bin ich hier.«
»Und hier ist der Stick. Das Original. Der Umschlag,
in dem wir das Ding bekommen haben, ist ebenfalls da drin. Ein Bote hat uns das
Zeug gebracht.« Sie übergab ihm eine Hülle.
Ihre letzter Satz hatte Wolf aufhorchen lassen. »Was
für ein Bote?«, wollte er wissen.
Karin winkte ab. »Können Sie vergessen. Irgendein
Junge von der Straße, zwölf Jahre alt, Kevin Klein heißt er. Hat vom Absender
fünf Euro bekommen, damit er uns die Sendung zustellt.«
»Das Übliche also«, knurrte Wolf. Er steckte die Hülle
achtlos in die Tasche und machte Anstalten, sich zu verabschieden.
Karin war mehr als verblüfft. »Ja … wie denn?
Interessiert es Sie überhaupt nicht, was der Datenträger enthält?«
Nun war es an Wolf, abzuwinken. »Was soll er schon
enthalten? Liebe Grüße vom Kalifat! Was sonst?« Er dachte kurz nach. »Wissen
Sie, Frau Winter: Mich interessiert nicht so sehr, was drauf ist. Ich will wissen, was dran ist! Fingerabdrücke, DNA -Spuren, das könnte uns vielleicht
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