Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)
sich die Ereignisse so überstürzen. Vielleicht sollte ich ihnen noch einmal Nachricht zukommen lassen …«
»Nein, suche diesen Bauern auf. Du weißt doch, wo er steckt, in welcher Unterkunft. Er ist doch noch in der Stadt, oder? Er kennt sich wenigstens in der Umgebung aus.«
»Du meinst den Krüppel? Mathis Maury?«
»Ja, einen besseren Mann wirst du für die Suche nicht finden. Er soll die Wachen des Herzogs mitnehmen, die im Dorf nach dem Rechten sehen, und glaube mir, er hat einen guten Grund, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen.«
Herberge in Nantes
E ine der bislang unentdeckten Leichen, wir brauchen nur eine dieser Leichen«, sagte der Magister, die Stimme gedämpft, um nicht die anderen Gäste in der Herberge auf sein Ansinnen aufmerksam zu machen.
Für diesen Bischofswicht haben sie keine Namen. Tote. Leichen. Menschen, die nicht mehr sind, und fertig. Was will er nun mit ihren Überresten? Sie noch in den Gerichtssaal zerren?, dachte Mathis und starrte in seinen Wein. Ein saurer Weißer, der ihm die Sinne vernebelte und ihn in einen Zustand versetzte, der angenehm war, weil er die Anspannung der letzten Tage ein wenig löste. Pfarrer Jeunet schlief auf einem der verlausten Strohhaufen im Nebenraum, die anderen waren abgereist.
Catheline. Immer wieder kreisten seine Gedanken um sie, ließ die Angst ihn keine Ruhe finden. Es war gut, in Nantes geblieben zu sein, auch wenn er nichts für sie tun konnte. Der Anblick des Schlosses gab ihm das Gefühl, in ihrer Nähe zu sein. Und jetzt, hier und jetzt wollte er einmal, ein einziges Mal seine Ruhe. Kraft schöpfen.
Er hob den Kopf, und der Schankraum schwankte ein wenig. Er grinste breit und bemerkte den Magister, der immer noch vor seinem Tisch stand. Wie lange er wohl schon dort steht?, fragte Mathis sich und führte den Becher erneut an den Mund. Nahm einen Schluck. Überlegte dabei, dass es sinnvoll sein könnte, dem Magister eine Antwort zu geben. Aber was antwortete man auf die Feststellung, dass Leichen gebraucht wurden? ›Wir brauchen nur eine der bislang unentdeckten Leichen‹ – was für eine Formulierung. Wofür überhaupt? Was hatte der Magister gesagt? Mathis schüttelte den Kopf und knallte den Becher auf den Tisch, sah zum Magister hoch und sagte: »Aha.«
Es schien nicht die Antwort zu sein, die der Mann sich erhofft hatte. Denn er beugte sich vor und packte Mathis am Kragen. »Der Baron hat seine Aussage gemacht«, zischte er. »Dieses Monster hat alles zugegeben, Dinge gesagt, die du nicht hören willst, weil du nie wieder in Ruhe schlafen könntest. Und dann, dann hat er seine Aussage widerrufen. Jetzt will Pater Blouyn die Folter morgen früh ansetzen und dabei auch gleich deine Freundin Catheline mitfoltern lassen. Morgen früh, verstehst du? Geht das in deinen versoffenen Schädel?«
Die Worte glichen Hammerschlägen. Schon das erste zerschlug dröhnend die weinselige Betäubung, jedes weitere prügelte schmerzhaft die Anspannung in Mathis’ Leib zurück. Er drückte den Rücken durch, schob die Hand des Magisters beiseite und sah ihn an. »Verdammt!«
»Das kann man sagen. Für Morgen früh ist die peinliche Befragung angesetzt, und wenn du willst, dass deinem Mädchen nichts geschieht, dann setz dich in Bewegung und sorge dafür, dass sich die erste Aussage als die richtige erweist.«
»Eine Leiche?«, fragte Mathis, während er dem Schankmädchen ein paar Münzen in die Hand drückte.
Der Magister packte ihn am Arm und zerrte ihn zur Tür der Herberge. »Eine Leiche. Du musst Rachel Authié finden, er hat sie beim Feenbaum verscharrt. Kennst du den? Ich weiß, das ist, als würde ich dich bitten, die Stecknadel im Heuhaufen zu suchen. Morgen in aller Früh werden auch Männer der Garde des Herzogs ausreiten. Ein Trupp wird nach Saint Mourelles, einer nach Port-Saint-Luc aufbrechen, aber bis dahin ist alles zu spät. Dann hat der Scharfrichter sein Werk bereits begonnen.«
Die Nacht war mild, die Luft für Nantes’ Verhältnisse erstaunlich klar. Tatsächlich roch es nach Blüten und Gras, ein Geruch, den Mathis nicht in dieser Stadt erwartet hatte. Aberder warme Sommerregen, der am frühen Abend gefallen war, hatte den Gestank aus den Straßen gespült. Der Magister wies auf ein gesatteltes Pferd, ein prachtvolles Tier, wie es Mathis bisher nur einmal geritten hatte. Einmal. Beim Ausritt mit dem Baron. Ein Sattel, so wertvoll, dass er sofort befürchtete, man würde ihn am Stadttor anhalten und ihn des Diebstahls
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