Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)
bezichtigen. Während er sich auf das Pferd hinaufzog, befestigte der Magister den Treibstecken am Sattel.
Für einen Moment sahen sie einander im Halbdunkel der Gasse an. Und Mathis war sicher, dass sie das Gleiche fühlten. Dass sie nie den Punkt erreichen würden, an dem sie einander schätzten oder respektierten. Aber dies war nicht der Moment, einander aus dem Weg zu gehen. In dieser Nacht waren ihre Schicksale aneinandergekettet. Und Mathis würde dafür sorgen, dass diese Verkettung sich endlich löste. Indem er Rachel fand und Catheline aus dem Kerker holte. Es klang so einfach, doch Mathis’ Magen schmerzte vor Angst.
»Hier habt Ihr einen Passierschein für das Stadttor, und wenn der Nachtwächter nicht lesen kann, das Siegel kennt er«, sagte Julien und reichte ihm einen Umschlag. »Auch eine Nachricht an den Hauptmann der herzöglichen Schutzwache in Saint Mourelles habe ich beigefügt. Wendet Euch dorthin, die Männer sollen Euch helfen, bis morgen die von mir angeforderte Verstärkung kommt. Und nun geht mit Gott.«
Saint Mourelles
I ch muss Rachel finden, um Catheline zu retten. Der Baron war es. Er ist es doch gewesen. Ich muss Rachel finden, um Catheline zu retten. Der Baron war es. Er ist es dochgewesen. Ununterbrochen jagten die Gedanken in Mathis’ Kopf im Kreis herum. Wie sehr hatte er gehofft, dass der Baron nicht der Täter war, auch wenn er zum Schluss tief in seinem Inneren Zweifel verspürt hatte. Zweifel, die er zugunsten der Hoffnung unterdrückt hatte. Wie sehr hoffte er nun, wenigstens Rachel zu finden. Würde auch diese Hoffnung enttäuscht werden, weil Wunder stets anderswo stattfanden?
Hätte sich ihm auf diesem Ritt der Teufel in den Weg gestellt und seine Hilfe angeboten, Mathis hätte eingeschlagen. Hätte seine Seele verkauft, um die Aufgabe zu schultern, die der Magister ihm aufgebürdet hatte. Je näher er Saint Mourelles kam, umso heftiger breitete die Verzweiflung sich in ihm aus.
Der Hang, vor dem der Feenbaum stand, war dicht bewachsen. Ein perfekter Ort, einen Menschen verschwinden zu lassen. Kein Vieh wurde dort hinaufgetrieben, vereinzelte Ziegen verirrten sich zwar hin und wieder ins Unterholz, sprangen aber leichtbeinig davon. Kein Wanderer würde dort entlangspazieren, kein Reisender sein Lager aufschlagen.
Als er ins Dorf einritt, sog er die Lunge voll Atem. »Hilfe, Hilfe! Schlagt die Glocke, ruft alle zusammen!« Er zügelte sein Pferd vor der Hütte des Schmieds. Mit einem Schüreisen in der Hand riss Yann die Tür auf. »Wer da?«, brüllte er und versuchte, den Reiter im Halbdunkel auszumachen.
»Yann, beruhige dich! Ich bin es, Mathis. Wir müssen Rachels Leiche finden, um Catheline zu retten. Ich brauche Leute, so viele wie nur möglich. Hole sie alle, nehmt Hacken und Spaten und Fackeln mit, kommt zum Hang am Feenbaum und bringt die Wachen des Herzogs mit«, rief er und warf Yann das Anschreiben des Notars für den Hauptmann der Schutzwache zu. Flugs trat er dem Pferd in die Flanken, bevor der Schmied weitere Fragen stellen konnte.
Er jagte den Weg hinauf, in den Wald hinein und sah aus denAugenwinkeln, dass in Blanches Hütte Licht brannte, dass sie die Tür öffnete und ihm zuwinkte. Nochmals trat Mathis dem Pferd in die Flanken. Später, dachte er. Egal, was es ist, es muss jetzt warten.
Die Dunkelheit der Nacht wurde im Wald zur Finsternis, die das Pferd unruhig machte. Mathis verlangsamte die Geschwindigkeit, denn ein Sturz oder ein Pferd, das scheute, waren die zwei Dinge, die er nun am wenigsten gebrauchen konnte.
Auf der Lichtung, an der sich zwei Wege gabelten, stieg er vom Pferd und tastete nach seinem Treibstecken. Nichts. Er klopfte schneller, umrundete das Pferd, doch der Treibstecken war weg.
Verloren.
»Dieser Bischofswicht, nicht mal für einen Knoten reicht es«, fluchte Mathis halblaut, und das Pferd schnaubte.
Es nützte nichts, er musste los, die Unruhe trieb ihn vorwärts. Er konnte nicht warten, bis die anderen kamen, ihm einen Spaten zum Abstützen anboten oder mit der Fackel das Unterholz ausleuchteten, um einen geeigneten Stock als Ersatz zu finden. Er stolperte vorwärts, unsicher und haltlos.
Schon wenige Schritte später hielt er inne. Lauschte. Das Geräusch einer Hacke, die den Boden beackerte. Er duckte sich und setzte behutsam weitere Schritte, in der Hoffnung, nicht auf trockenes Geäst zu treten, das knackend von seiner Anwesenheit kündete. War schon irgendwer aus dem Dorf hier? War er so langsam gewesen,
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