Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)
müssen. Aber nicht einmal diese Erleichterung war ihr vergönnt.
Sie sah das Dach der Pfarrei. Schwarzer Schiefer, vom Wind und Regen grau gewaschen. Gleich würde sie zu Hause sein, irgendwann bei Vater Jeunet eine Beichte ablegen und sich dann ihrem Schicksal beugen. Würde für den alten Mann putzen, seine Kleidung waschen und ihn bekochen und dabei zusehen, wie ihr Leib vertrocknete.
Schluchzend ging sie in die Hocke, ließ Tränen und Rotz ihren Lauf. Wieder drängten die Bilder an die Oberfläche, und über ihnen lag ihre eigene Stimme, ein grausames Echo aus einem Leben, das es nicht mehr gab: »Wenn ich könnte, würde ich Gott bitten, für dich ein elftes Gebot in Stein meißeln zu lassen. Es würde heißen: Du sollst nicht selbstmitleidig sein!«
Schloss Troyenne
D ie meisten ihrer Kleider waren in die Reisetruhe gepackt. Nur noch das Nötigste lag herum, ein wenig Schmuck, ein Hennin, ein Schultertuch, alles Dinge, die Bérénice hurtig verstauen konnte, um das Schloss, sobald Juliens Nachricht eintraf, schnellstmöglich zu verlassen.
»Wie ich sehe, geht es dir besser?«
Bérénice fuhr herum. In der Tür stand Amédé, und sie hatte keine Vorstellung, wie lange er schon dort stand und sie beobachtete.
»Ich habe mir Sorgen gemacht, weil ich dich gestern nicht angetroffen habe. Wie ich hörte, hast du dich nicht gut gefühlt, da wollte ich sichergehen, dass du mit allem versorgt bist«, fuhr Amédé fort, und sein Blick tastete sich aufmerksam durch ihr Gemach.
»Es ist besser«, sagte sie und strich sich ihr Haar hinter das Ohr. »Du weißt ja, die Frauenleiden.« Sie rang sich ein Lächeln ab.
»Willst du wieder fahren?«, fragte er, als er die geöffnete Reisetruhe bemerkte. Seine Mundwinkel sackten herab.
»Nein, Gott bewahre. Ich habe nur für Ordnung gesorgt. Die Reisetruhe habe ich bisher noch nicht ausgeräumt, ich war ein wenig nachlässig, eben weil ich mich nicht so gut fühlte.«
Die Mundwinkel erhoben sich wieder. »Wollen wir vielleicht etwas gemeinsam unternehmen?«
Bérénice meinte zu hören, wie die Erleichterung sie innerlich aufseufzen ließ. Sie hatte es geschafft und bis hierher den Schein gewahrt. »Gern, das können wir machen«, sagte sie und nahm hastig ihr Schultertuch. »Wie geht es Francine? Ist sie auch wieder wohlauf?«
Amédé nickte. »Ja, auch sie hat sich erholt. Ich habe es dir ja gleich gesagt, Reisen sind für Frauen anstrengender, als man gemeinhin denken mag. Das hängt manchmal noch Wochen in ihren empfindlichen Knochen.«
Bérénice rollte eine Gänsehaut den Rücken hinab, als sie an den Abend dachte, bei dem die drei Männer sich bemüht hatten, sie davon zu überzeugen, sich so früh wie möglich zur Ruhe zu begeben. Die Erinnerung an die Beobachtungen der Nacht schob sie beiseite.
»Wollen wir spazieren gehen?«, fragte Amédé und nahm ihren Arm. »Den Wald magst du doch gern.«
»Oh, dafür bin ich wohl doch noch ein wenig zu schwach. Es würde mir reichen, wenn wir uns mit dem kleinen Gärtchen begnügen und uns dort vielleicht in der Sonne auf die Bank setzen.«
»Du willst dich neben unsere Gemüsebeete setzen?« Kleine Fältchen bildeten sich beim Lachen um Amédés Augen.
Bérénice nickte nur. Dort taucht wenigstens immer wieder Gesinde auf, fügte sie in Gedanken hinzu.
Der Frühling stand inzwischen in voller Blüte, und die Sonne war so warm, dass es sich selbst im Schatten des Apfelbaumes ohne eine Decke gut aushalten ließ. Amédé stand breitbeinig vor der Bank und zeigte auf zwei Vögel, die durch eines der Beete hüpften. Er grinste. »Wenn sie wenigstens die Schnecken fressen würden, aber nein, sie zerhacken nur das Gemüse. Das ist Absicht, ich sage dir, da steckt ein Plan hinter.«
Gegen ihren Willen musste Bérénice lächeln.
Amédé sprang zum Beet und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, wobei er einem kleinen Jungen ähnelte, der einen Heidenspaß dabei empfand, die Vögel zu vertreiben. Zufrieden zog er seinen Wams zurecht, kam zur Bank zurück und ließsich neben sie fallen. »Verzeiht mir«, sagte er mit verstellter Stimme. »Als Schutzheiliger des Gemüsebeetes musste ich erst meinen Aufgaben nachkommen.«
»Du bist gut gelaunt heute«, stelle Bérénice fest. Tatsächlich schimmerte ein wenig des alten Witzes durch, der Amédé einst zu eigen gewesen war.
»Ich freue mich einfach, dass du da bist, ob du es glaubst oder nicht.«
»Du bist ein Schmeichler.«
»Das habe ich viel zu selten getan in
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