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Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)

Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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das Herz begehrte, erhältlich war: Zerstreuung für Jung und Alt, eine erstklassige medizinische Versorgung, Speis und Trank aus aller HerrenLänder wie auch edle Bade- und Freudenhäuser mit einer beeindruckenden Auswahl unterschiedlichster Frauen. Nichts von alledem gab es in Saint Mourelles.
    Die Haushälterin öffnete die Tür. Sie trug keine Haube, ihr haselnussfarbenes Haar war zu einem strengen Zopf geflochten und im Nacken festgesteckt. Sie hatte etwas von einem Arbeitspferd, belastbar und kräftig, ohne überschüssiges Fett. Ihr Gesicht war hübsch anzusehen, auch wenn ein Hauch von Bitterkeit darin lag, der von den leichten Schatten unter ihren Augen unterstrichen wurde. Aber weder das noch die drei Kratzer, die sich über die linke Wange zogen, trübten den erfreulichen Anblick. Innerlich grinste Julien. Gut, dass Jeunet so alt ist, sonst würde es sicherlich jede Menge Tratsch geben bei einer so jungen Haushälterin.
    »Demat deoc’h!«, begrüßte diese ihn.
    Julien hob die Augenbrauen. Sie muss doch wissen, dass ich kaum Bretonisch spreche, dachte er. »Guten Morgen!«, erwiderte er gedehnt und ging an ihr vorbei.
    Pfarrer Jeunet lächelte, als Julien eintrat, wie es nur die Alten vermochten: weise und fast väterlich, ohne herablassend zu wirken. »Wollen wir gleich zur Sache kommen, Magister«, eröffnete der Pfarrer das Gespräch nach der Begrüßung ohne Umschweife, »denn Eure Zeit ist knapp bemessen.« Er hob den Deckel einer kleinen Kiste an und schob sie über den Tisch. »Diese Mantelspange wurde in der Hand eines der Opfer gefunden. Wir befürchten, dass sie uns nicht weiterhilft, aber es ist mir wichtig, Euch darüber zu informieren.«
    »Pfarrer Jeunet, es gibt keinen Grund zur Eile, denn wir werden demnächst viel Zeit miteinander verbringen, nehme ich an. Und alles, was ich Euch jetzt erzähle, muss vertraulich behandelt werden.«
    Erstaunen machte sich im Gesicht des Pfarrers breit. »Natürlich, wie könnt Ihr etwas anderes annehmen?«
    Julien überging den Einwurf. »Ich möchte Euch mitteilen, dass die Heilige Inquisition angerufen wurde.«
    Einen Moment ähnelte der Pfarrer einem an Land gespülten Fisch, der nach Luft schnappte. »Die Inquisition?«, fragte er und saß dann wieder mit halb geöffnetem Mund da.
    »Ja, und ich wurde zum Kommissar ernannt. Bischof du Clergue hat mich beauftragt, mich als Generalexaminator der Zeugen anzunehmen. Meine Aufgabe ist es nun, ihre Aussagen für das geistliche Gericht aufzuzeichnen.«
    »Welche Zeugen? Es hat doch niemand etwas gesehen«, sagte Pfarrer Jeunet, und seiner Tonlage war zu entnehmen, dass er beeindruckt, nahezu eingeschüchtert war.
    »Hiermit ist jeder gemeint, der einen Verlust in der Familie erlitten oder etwas beobachtet hat: Auch diejenigen, die mit der Auffindung der Opfer zu tun hatten, will ich vernehmen. Weiterhin möchte ich die Fundorte abgehen.« Julien wies auf die Kiste mit der Mantelspange. »Einfach jedes Detail muss erfasst werden, und es ist ganz gleich, welcher Art es ist. Gern spreche ich mit jedem. Im Nachgang können wir immer noch entscheiden, was für den Prozess verwertbar ist.« Der Pfarrer nickte, aber seine Finger zupften unruhig an der Unterlippe herum. Eine unpassende Angewohnheit für so einen Mann, dachte Julien und fuhr fort: »Ich hoffe, Ihr versteht, dass alles von den Zeugenaussagen abhängt?«
    »Ihr wollt gegen wen vorgehen? Ich bin unsicher, ob ich Euch folgen kann.«
    »Gegen Amédé de Troyenne.«
    Der alte Mann sog die Luft ein, schien etwas erwidern zu wollen. Doch dieses Mal schloss er den Mund und schwieg.
    »Ich werde in den kommenden Tagen noch einmal im Dorferscheinen, und ich möchte Euch bitten, die Anwohner bis dahin darauf vorzubereiten, dass ihre Zeugenaussagen benötigt werden.«
    »Das ist dann alles, was die Zeugen machen müssen?«
    Julien ahnte, dass der Pfarrer Zweifel hegte, die Bauern überzeugen zu können, gegen den eigenen Lehnsherrn auszusagen. Für einen Moment überlegte er, die Wahrheit nur scheibchenweise preiszugeben. Er nahm einen Schluck von dem lauwarmen Apfelwein, den die Haushälterin bereitgestellt hatte, und beschloss, den gesamten Ablauf des Prozesses zu offenbaren. »Es wird zwei Prozesse geben, sowohl den kirchlichen als auch, im Anschluss daran, den weltlichen. Dementsprechend werden die Befragungen parallel von einem Vertreter des kirchlichen und einem des weltlichen Gerichts aufgezeichnet. Vielleicht müssen sie ihre Aussage auch noch einmal zu

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