Sehnsucht der Unschuldigen
»Werft alle eure Waffen weg. Das ist heller Wahnsinn, was ihr da macht!«
Wie auf ein Kommando ließen die Männer ihre Gewehre fallen.
»So, jetzt stehst du ganz allein da, Billy T.!« rief Tucker.
»Von mir aus kannst du auch gern allein sterben.«
Billy T. warf sein Gewehr weg und stieß Winnie zu Boden.
Schluchzend krabbelte sie auf ihren Mann zu.
Als Billy T. Anstalten machte, zu seinem Wagen zu gehen, sagte Tucker ganz ruhig: »Bleib, wo du bist.«
»Willst du mir etwa in den Rücken schießen?«
Statt einer Antwort zerschoß Tucker die Windschutzscheibe.
»Los, knall ihn doch ab!« feuerte ihn Tante Lulu an. »So spart man Steuergelder.«
»Jetzt laßt es doch gut sein!« Caroline wischte sich die schweißnassen Hände ab und eilte zu Winnie hinüber. »Es ist alles vorbei, Winnie, du brauchst keine Angst mehr zu haben.«
»Meine Kinder!«
»Ich gehe gleich zu ihnen.« Caroline versuchte, Winnie von den Fesseln zu befreien, ehe die Kinder aus dem Haus kamen.
Aber da rannten sie schon herbei. Jim schwang noch immer das mit John Thomas’ Blut verschmierte Metzgermesser.
Caroline wandte sich Toby zu und löste die Schlinge um seinen Hals. Ihr wurde schwindlig, als sie seine Wunden sah.
»Du bist ja verletzt! Schnell, jemand muß einen Arzt holen!«
»Wir bringen ihn ins Krankenhaus. Glaubst du, du schaffst es, Toby?« Tucker kniete sich neben Caroline und half ihr, Tobys Fesseln aufzuschneiden. Die inzwischen eingetroffene Polizei, Burke und Carl, führte bereits Billy T. und seine Spießgesellen ab.
Toby schloß seine Kinder in die Arme. Aus seinem unversehrten Auge strömten Tränen. »Ich glaub’, ich bin gar nicht so schlimm verletzt.« Er lächelte Winnie aufmunternd an.
»Fährst du mich?«
»Aber klar.«
»Na also. Alles halb so schlimm. Dwayne, kannst du mir helfen? Delia, fährst du die Kinder nach Sweetwater? Caroline?
Wo gehst du hin?«
Sie sah sich nicht um. »Einen Gartenschlauch holen. Soll das Kreuz denn ewig brennen?«
26
Schreie stiegen in die heiße Sommerluft und mischten sich mit aufgeregtem Juchzen und unbändigem Gelächter. An allen Ecken und Enden blitzten, tanzten und wirbelten bunte Lichter und verwandelten das Eustis Field vor den Toren des Städtchens in eine Sinfonie aus bewegten Farben. Der Jahrmarkt hatte in Innocence Einzug gehalten.
Jedermann kramte bereitwillig nach Kleingeld für eine Tour mit dem Riesenrad, eine atemberaubende Berg- und Talfahrt auf der Achterbahn und das schaurigschöne Schwindelgefühl auf dem Kettenkarussell.
Kinder rannten in einem fort vorbei. Ihre Finger waren von Zuckerwatte verklebt, ihre Wangen aufgebläht, weil sie gierig Hot dogs oder gebrannte Mandeln in sich hineinstopften. Die älteren unter ihnen versuchten, einander bei den Wurf- und Schießbuden zu überbieten, oder ließen sich vom Kettenkarussell durch die Luft wirbeln.
Wieder ältere Semester forderten in der Bingohalle ihr Glück heraus – meist nur für einen Dollar. Ein paar dagegen fielen dem Spielfieber zum Opfer und verloren bis zu ein ganzes Monatsgehalt an den Einarmigen Banditen.
Jeder Besucher hätte das Treiben für einen vollkommen normalen Jahrmarkt in einer Durchschnittskleinstadt im amerikanischen Süden gehalten. Nur auf Caroline verfehlte der Zauber seine Wirkung.
»Warum habe ich mir bloß diesen Besuch aufschwatzen lassen?«
Tucker legte ihr einen Arm um die Schulter. »Weil du meinem Südstaatencharme eben nicht widerstehen konntest.«
Sie blieb vor einem Stand mit Glaswaren stehen, die man anderswo für den halben Preis bekommen hätte. »Trotzdem ist es nicht passend – nach allem, was geschehen ist.«
»Aber daran ändert ein Volksfest doch auch nichts. Man verlernt höchstens das Lachen nicht ganz.«
»Darleen wird am Dienstag beerdigt.«
»Wenn du zu Hause bleibst und Trübsal bläst, wird sie genauso beerdigt.«
»Nach der Sache von heute nacht…«
»… ist doch alles in bester Butter«, vollendete Tucker den Satz. »Billy T. und seine Kumpane hocken im Gefängnis.
Vorhin habe ich mit dem Doc telefoniert. Toby und Winnie haben sich schon wieder prächtig erholt. Da, schau dir nur die zwei Jungen an!« – Tucker deutete auf Cy und Jim, die gerade lachend aus ihrem Achterbahnwagen kletterten – »Die feiern die Feste, wie sie fallen, und lassen sich durch nichts den Spaß verderben.«
Er gab Caroline einen Kuß auf die Haarspitzen und führte sie weiter. »Weißt du übrigens, warum das Gelände ›Eustis Field‹
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