Sehnsucht der Unschuldigen
»Wie ich Paraden liebe! Abgesehen von Hochzeiten, Beerdigungen und Pokerpartien kann mich nichts besser unterhalten!«
»Morgen wird dir eine Beerdigung geboten, wenn du willst«, seufzte Delia und bediente sich aus Lulus Thermoskanne. »In der letzten Zeit sind es entschieden zu viele geworden. Tja, zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren marschieren die Damen vom Gartenverein heute ohne Happy.«
»Warum das?«
»Ihre Tochter wird morgen zu Grabe getragen.«
»Eine schöne Beerdigung wird sie wohl ein bißchen entschädigen«, mutmaßte Lulu. »Was steuerst du zum Leichenschmaus bei?«
»Meine Kokosambrosia. Schau mal, dort drüben. Siehst du die Kleine, die den Stab wirbelt wie ein Derwisch? Das ist Carl Johnsons Tochter.«
»Ein richtiges Energiebündel.« Lulu nippte an ihrem Julep.
»Weißt du, Delia, das Leben ist ja auch so was wie ein Stab.
Man kann ihn zwischen den Fingern herumwirbeln, wenn man einigermaßen Talent hat. Wenn man schnell genug ist, kann man ihn in die Luft werfen und wieder fangen. Man kann ihn aber auch fallen lassen oder jemandem auf den Kopf hauen.« Sie entlockte lächelnd ihrer Zither ein paar Töne. »Paraden sind wirklich herrlich!«
Caroline hatte schweigend zugehört. Lulus Vergleich stimmte sie nachdenklich. Wie recht die alte Frau doch hatte! Caroline glaubte eigentlich nicht, daß sie schon einmal jemandem mit ihrem Stab eins übergezogen hatte, aber ganz gewiß hatte sie ihn bereits mehrere Male fallen lassen. Und erst seit kurzem versuchte sie, ihn zwischen den Fingern herumzuwirbeln.
Cy riß sie mit einer Erklärung aus den Gedanken. »Das da hinten ist die Baumwollprinzessin mit ihrem Hofstaat. Sie wird jedes Jahr von der High School neu gewählt. Mr. Tucker hätte sie mit seinem tollen Auto fahren sollen, aber weil es noch nicht fertig ist, haben sie ein Cabriolet gemietet.«
»Sie ist entzückend.« Caroline lächelte das Mädchen in dem weißen Kleid mit den bauschigen Ärmeln an.
»Sie heißt Kerry Sue Hardesty.« Cy dachte aber nicht an sie, sondern an ihre Schwester, Lee Anne, deren Brüste es ihm seit neuestem gewaltig angetan hatten. Er reckte den Kopf, um sie vielleicht irgendwo zu entdecken. Da sah er plötzlich Jim. Er gestikulierte heftig.
»Geh doch zu ihm rüber, Cy«, schlug Caroline vor. »Wir können uns nach der Parade beim Auto treffen.«
Cy, der nur zu gerne losgerannt wäre, widerstand der Versuchung. Mr. Tucker hatte ihn in einem Gespräch von Mann zu Mann gebeten, gut auf Miss Caroline aufzupassen. »Nein, nein, Ma’am. Ich fühle mich pudelwohl hier. Sehen Sie, da drüben sind Miss Josie und dieser Arzt vom FBI. Sie haben ihn ja wegen Darleen wieder anfordern müssen. Kommen Sie ihm nicht zu nahe. Er hat im Knopfloch eine Rose stecken. Mit dem Ding spritzt er die Leute voll. Da, jetzt hat er schon wieder einen erschreckt!«
»Er ist wirklich ein Original.« Caroline ließ den Blick über die Menge schweifen. »Wo Tucker nur stecken mag…«
»Direkt hinter dir.« Tucker schlang einen Arm um sie und küßte ihr die Haarspitzen. »Du glaubst doch nicht im Ernst, daß ich mir die Parade ohne eine so schöne Frau wie dich ansehen würde.«
Sie schmiegte sich an ihn. »Eigentlich nicht.«
»Soll ich Ihnen und Miss Caroline frische Drinks holen, Mr.
Tucker?«
»Nicht nötig. Ich glaube, Tante Lulu hat genug Medizin in der großen Thermoskanne dabei.«
Cy sprang nach vorne, ließ sich von Tante Lulu ein Glas einschenken und reichte es Tucker. »Der FBI-Mensch schaut übrigens auch zu. Er hockt vor dem Sheriffsbüro.«
»Ich habe ihn schon gesehen.« Tucker nippte an dem süßen Drink aus Minze und reichte dann Caroline das Glas.
Caroline trank zum ersten Mal in ihrem Leben das berühmte Nationalgetränk des Südens. »Einen fröhlichen Eindruck macht er ja nicht gerade.«
»Sieht eher so aus, als hätte er eine bittere Pille im Mund«, bemerkte Cy.
»Er versteht Land und Leute eben nicht«, brummte Tucker.
»Schaut, da kommt Jed Larsson mit seiner Band!«
Als die Kapelle die Südstaatenhymne, den Dixie, anstimmte, brach die Menge in Jubel aus. Wer noch beim Essen war, sprang spätestens jetzt auf die Beine.
Caroline lehnte lächelnd den Kopf an Tuckers Schulter. Sie verstand die Leute hier sehr wohl.
Vierter Juli, das hieß amerikanischer Unabhängigkeitstag, das hieß eifriges Fähnchenschwingen, das hieß Torte oder ein kühles Bier im Schatten. Es gab zwar auch Leute in schwarzer Trauerkleidung und die Polizei setzte ihre
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