Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
da geht Mr. Rutherfords Ungeduld mit ihm durch.
»Sie dürfen nicht vergessen, Miss Musk, dass der Leiter einer Bank Einfluss hat. Und wenn ein Bankdirektor in einer Stadt wie dieser es für nötig erachtet, einen seiner Angestellten wegen schlechter Führung zu entlassen, wird dieser Angestellte auch in anderen Heimen nicht willkommen sein. Eine junge Frau in Ihrer Position muss auf ihren Ruf bedacht sein. Sie haben keine Familie, keine anderen Möglichkeiten der Unterstützung. Ohne das Wohlwollen von Menschen wie etwa den Fitzgibbons und mir möchte man lieber nicht daran denken, was die Zukunft für Sie in petto hat.«
Jemma springt auf, ehe sie weiß, was sie tut. Sie hat nicht gewollt, dass es so weit kommt. Sie hat sich entschuldigen wollen. Jetzt aber ist er zu weit gegangen. Warum sollte sie verleugnen, wer sie war? Sollen die Leute doch reden, was sie wollen! Sie wird nicht in Angst vor ihrer Zensur leben. Sie hat immer gewusst, dass sie für die Distanz, die die Kunst von ihr fordert, einen Preis zahlen muss, dass jedes Gemälde eine potenzielle Übertretung der Gesetze darstellt, nach der die meisten Menschen leben. Wenn man also das, was man tut, allzu ernsthaft betreibt, es als Berufung versteht und nicht nur als eine der vielen Fertigkeiten, die eine junge Frau erwerben sollte, wird man schließlich Rechenschaft ablegen müssen. Ihr einziges Verbrechen ist es gewesen, einen jener unvorhergesehenen Augenblicke, auf denen einen nichts vorbereitet, dem Vergessen zu entreißen und ihn der Prüfung zu unterziehen.
»Es tut mir leid, Mr. Rutherford …« Ihre Stimme bebt.
Er lächelt sie erwartungsvoll an.
»… aber ich kann nicht tun, worum Sie mich bitten.«
Alfred Rutherfords Gesicht erstarrt. Das Weiße seiner Augen schimmert im Lampenlicht, als die Überraschung in kalte Wut umschlägt. Er berührt die Enden seines Schnurrbarts, wie er das in Jemmas Vorstellung wohl auch tut, wenn er jemandes Konto kündigt.
»Ich erwarte, dass Sie bis morgen früh Ihre Taschen gepackt haben.«
5
In einem gemieteten Zimmer im hinteren Teil eines kleinen Reihenhauses aus roten Ziegeln in South Melbourne steckt Marcus O’Brien seine Hand in einen Vogelkäfig und streckt seinen Zeigefinger aus, um den Kanarienvogel dazu zu bewegen, von seiner Stange zu hüpfen. Als er spürt, wie die kleinen Krallen sich um seinen Finger schließen, zieht er seine Hand zurück und befördert den Vogel in einen anderen Käfig. Nachdem er den ersten Käfig sauber gemacht und Samenkörner und Wasser eingefüllt hat, bringt er den Vogel zurück. Er wartet darauf, dass er zu zwitschern beginnt. Für gewöhnlich entsteht daraus etwas Melodisches, etwa die Anfangstakte von Beethovens Ode an die Freude oder das Schlaflied, das Marcus aus seiner Kindheit in Erinnerung geblieben ist und das er ihm beigebracht hat. Dem Vogel Worte beibringen, wie das andere Kanarienliebhaber tun, hat er nicht versucht. Er will nur, dass der Vogel singt.
Der Vogel springt von Stange zu Stange und pickt sein Futter. Marcus’ Ideenvorrat ist erschöpft, nichts hat funktioniert, er weiß sich keinen Rat mehr. Aber keiner hat ihm gesagt, dass ein Männchen verstummt, wenn es seiner Partnerin beraubt ist. Keiner, der sich nur irgendwie mit Kanarienvögeln auskennt, hatte von so etwas schon mal gehört. Marcus O’Brien schiebt es auf die Hitze. Die Hitze war es auch, der vor ein paar Tagen das Weibchen zum Opfer fiel, und vielleicht liegt es auch an der Hitze, dass dem Männchen die Kraft für sein Lied fehlt. Bis zum Tod des Weibchens – Namen hatte er ihnen nicht geben wollen – war das Männchen ein Preissänger gewesen, vor allem vor der Paarungszeit. Zum Schweigen ließ er sich nur bringen, wenn man am Abend den Käfig mit der Haube abdeckte. Marcus hat einen kleinen Parfümzerstäuber gekauft und besprüht damit den Vogel regelmäßig mit Wasser, um ihn kühl zu halten. Denn er befürchtet, auch noch das Männchen zu verlieren, wenn diese Hitzewelle anhält.
Sein Zimmer mit nur einem Oberlicht, durch das nie ein frisches Lüftchen kommt, ist das reinste Treibhaus. Er würde den Käfig ja mit hinunter zum Strand nehmen, es sogar riskieren, dort einem der anderen Polizisten seiner Wache über den Weg zu laufen, wenn es etwas bringen würde. Aber diese Vögel sind empfindliche Wesen. Ein plötzliches lautes Geräusch, eine Gruppe brüllender Flegel oder ein kreischendes Kind, und er könnte einfach so tot umfallen. Hätte ihm vor einigen Jahren jemand
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