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Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fiona Capp
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zu treffen gewillt ist, Nachdruck und Gewicht verleihen. Doch in diesem Fall gibt es kein Dokument, es gibt nur »mündliche Berichte«, allgemein als Gerüchte und Klatsch bekannt.
    Alfred Rutherford wird nicht zugeben, dass er sich um diesen Klatsch kümmert oder ihm Glauben schenkt – das fällt schließlich in das Ressort der Frauen. Aber wenn jemand über einen ernsten Vorfall von einem zuverlässigen Informanten Kenntnis bekommt, es sich also um eine vertrauenswürdige Auskunft handelt, liegt der Fall anders. Ein sehr guter Freund von ihm habe über seine Schwester von einem Vorfall erfahren, der sich vor ein paar Tagen ereignete; ein überaus verstörender Vorfall, in den Miss Musk verwickelt sei. Ein Vorfall, bei dem sie sich in einer Weise verhalten habe, die ein schlechtes Licht auf sie werfe und somit auch auf ihn, ihren Arbeitgeber.
    »Mir wurde zugetragen, Sie seien Zeugin eines merkwürdigen Ereignisses gewesen, das fast zum Tode eines jungen Mädchens geführt hat. Dass dieses Mädchen zwischen Leben und Tod geschwebt habe, als es unsicher über einer Mine thronte, wobei nur sein Kleid es vor dem Absturz bewahrt hat. Aber anstatt zu Hilfe zu eilen, wie das jeder vernünftige Mensch getan hätte, seien Sie sitzen geblieben und hätten den Vorfall gezeichnet und das arme Kind seinem Schicksal überlassen!«
    Jemma kann durch die Bogenfenster hinter Mr. Rutherford den klar strukturierten Garten sehen, dahinter eine Reihe niedriger Berge, deren höchster der erodierte Kegel des Mount Franklin ist, wo die untergehende Sonne den Horizont mit großzügigen Zickzacklinien purpurn und golden aufleuchten lässt, als wäre der erloschene Vulkan wieder ausgebrochen. Die Farben sind so wild, so lebhaft im sich vertiefenden Dämmerlicht, dass für sie einen Moment lang nur dieser Blick existiert und das Gefühl der fortschreitenden Nacht und der Grillen, die leise am Boden zirpen. Dann räuspert sich Mr. Rutherford und erinnert sie daran, dass von ihr erwartet wird, sich zu verteidigen.
    »Es gab nichts, was ich für das Kind hätte tun können. Ich war entsetzt, als ich sah, was geschah. Aber ich war zu weit weg.« Indem Jemma dies ausspricht, fragt sie sich, ob es stimmt. Versucht sie sich freizusprechen? Vielleicht haftet ihr tatsächlich ein moralischer Makel an, wie alle zu vermuten scheinen. »Ich ging hin, um meine Hilfe anzubieten. Aber sie war nicht erwünscht.«
    Natürlich kann sie nicht zugeben, dass sie nicht nur entsetzt, sondern ebenso fasziniert war, genauso wenig wie sie von dem überwältigenden Drang berichten kann, diesen Augenblick festzuhalten, bevor er vorüber war. Sosehr sie auch infrage stellen mochte, ob sie es tatsächlich hätte tun sollen, war der Druck doch größer gewesen als jeder ihrer Skrupel.
    »Das mag ja sein«, erwidert Mr. Rutherford, der seine Hände nun verschränkt auf dem großen, leeren Schreibtisch vor sich abgelegt hat. »Aber Sie haben weitergezeichnet. Sie haben den ganzen Vorfall gezeichnet. Was wohl kaum der Situation angemessen war, Miss Musk. Sie haben das Unglück dieser Familie ausgeschlachtet, indem Sie es in ein Spektakel verwandelt haben. Wie kann ich meine Tochter weiterhin einer derart kalten, gefühllosen Frau anvertrauen?«
    Jemma sieht ihrem Arbeitgeber unbeirrt in die Augen. »Vielleicht indem ich Ihnen die Gemälde zeige, die ich nach diesen Skizzen angefertigt habe, dann können Sie selbst beurteilen, ob ich etwas Falsches getan habe.«
    Da die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist, ist es nun dunkel im Raum. Alfred Rutherford greift nach der Öllampe und dreht den Docht hoch. Die Flamme leuchtet auf und taucht den Raum in schwimmende Schatten. Mit der Kühnheit der jungen Gouvernante, ihrer Weigerung, jegliches Fehlverhalten einzugestehen, hatte er keineswegs gerechnet. Er kaut an seiner Wange und sagt ihr, er habe kein Interesse daran, ihre Bilder zu sehen. Sie täten nichts zur Sache.
    Jemma muss an das letzte Werk ihres Triptychons denken, die aneinanderkauernde Familie, die mit einem Ausdruck grimmigen Vorwurfs in ihren Augen aus der Leinwand herausschauende Mutter. Sie hatte gehofft, dass die Macht der Geschichte als solcher – das vom Abgrund zurückgerissene Leben – ausreichen würde, ihn den Wert erkennen zu lassen, aber vermutlich fände damit ihre Schuld nur Bestätigung. Und Mr. Rutherford verfügt eindeutig über kein Kunstempfinden. Im gesamten Haus findet sich kein einziges anständiges Gemälde.
    »Was erwarten Sie von

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