Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
gesagt, er werde zum Kanarienliebhaber, hätte er gelacht. Inzwischen hat er gelernt zu akzeptieren, dass die Welt unterteilt ist in die einen, die Vögel halten, und die anderen, die das nicht tun, und dass man das erst versteht, wenn man selbst einen Vogel hat.
Die ganze Esplanade entlang schlendern unter den Gaslampen teilnahmslos die Leute dahin. Sie wenden ihre Gesichter der glitzernden schwarzen Bucht zu und hoffen auf einen Windhauch. Auf seinem Weg über den Strand kann Marcus O’Brien die dunklen Buckel sich umarmender Paare, die wie von den Gezeiten an Land gespülte Geschöpfe im Sand liegen, ihre geflüsterten Koseworte und ihr Stöhnen hören. Wäre er in Uniform gewesen, hätte er sie mit einem einzigen Blick aufschrecken und zerstreuen können, wie er das an seinem ersten Tag auf Streife getan hatte, als er in einer Gasse an zwei Liebenden vorbeikam. Es hatte ihn erstaunt, wie viel Macht in einem Blick lag.
Doch heute Abend ist er froh, außer Dienst zu sein und sich unerkannt zu bewegen. Er hebt eine Flasche Bier an seine Lippen und betritt die Mole. Am anderen Ende lassen zwei Fischer ihre Beine über dem Wasser baumeln, neben ihnen stehen Lampen. Dahinter erstreckt sich die samtige Dunkelheit von Port Phillip Bay. Er nickt den Fischern zu und lehnt sich an einen Poller und schaut hinaus in die Nacht. Jedes Mal, wenn er hierherkommt, ist ihm bewusst, dass er auf der Suche nach etwas ist. Weniger nach einem Gegenstand als nach einer Gemütslage. Eine Gemütslage wie die, die einen Kanarienvogel zum Singen bringt, ihn trällern und zwitschern lässt, jenen nicht zu unterdrückenden Impuls, der bewirkt, dass die Töne aus seiner winzigen Brust herausströmen. Diese Art von Freude würde er gern kennenlernen. Doch wann immer er an sein Leben denkt, fällt ihm sein kleines dunkles Zimmer ein. Dessen einziger Lichtpunkt sein goldener Kanarienvogel ist, der in seinem Käfig singt.
In Nächten wie dieser hält er es in seinem Zimmer nicht aus, vor allem jetzt nicht, da das Männchen verstummt ist. Über ihm schlurft die Vermieterin umher und räuspert sich ständig. Da hört er lieber dem gegen die Pylone klatschenden Wasser zu und beobachtet den schwachen Lichtschein von Williamstown, der über die Bucht herüberflackert, und kehrt der Stadt mit all ihrem Abschaum den Rücken zu, als gäbe es ihn gar nicht.
Doch es fällt ihm schwer, sich gedanklich von seiner Arbeit zu lösen. Als er bei der Polizei angefangen hatte, war Erasmus Musk immer für ihn da, um ihm nach einem harten Tag zuzuhören. Sein alter Schulmeister, ein eifriger Leser von Mordgeschichten und der Police Gazette , lauschte begeistert den Einzelheiten von Marcus’ Arbeit, den internen Geschichten zu den Ermittlungen, die gerade die Zeitungen füllten, alles, was sich in der Unterwelt abspielte. Die Demimonde pflegte Erasmus Musk sie mit seiner tiefen, volltönenden Stimme zu nennen. Als er dieses Wort zum ersten Mal gebrauchte, hatte Marcus nicht gewusst, was es bedeutete. Aber es freute ihn, Intelligenz zu besitzen, die von einem Mann geschätzt wurde, den er so sehr bewunderte.
Er muss oft an diese Abende denken, die er in Erasmus’ Salon bei einem Glas Brandy oder Scotch verbrachte. Eines Tages, als sie sich über einen Raubüberfall unterhielten, beugte Erasmus sich vor und sagte leise: »Seien Sie jetzt vorsichtig, Marcus. Gehen Sie keine unnötigen Risiken ein.« Marcus trank rasch einen Schluck, um den Kloß in seinem Hals hinunterzuspülen. So musste es sein, wenn man einen echten Vater hatte. Einen, der einen nicht schlug, sobald er einen ansah. Einen, den nicht der Grog und die Überzeugung verzehrten, dass alle ihm Böses wollten. Marcus weiß, dass auch ihm dieser Weg hätte beschieden sein können, wäre da nicht Erasmus Musk gewesen.
Doch das Beste an diesen Abenden war das Wissen gewesen, dass jeden Moment Jemma Musk durch die Tür kommen konnte. Sich über ihren Vater beugte, um ihm einen Kuss zu geben und sich dann an Marcus zu wenden und ihm ihre Hand zum Gruß zu reichen. Dann spürte er ein oder zwei Sekunden lang ihre kühle Hand in seiner, ihre zartknochigen Finger und die weichen Polster ihrer Handfläche, während er sie ansah. Und jedes Mal ging ein galvanisches Zucken durch ihn hindurch, als wäre zwischen ihnen eine Kraft am Werk. Er war sich sicher, dass auch sie diese empfand. Als Erasmus sie beim ersten Mal einander vorstellte, sagte er: »Marcus, das ist meine Tochter Jemma«, und Marcus O’Brien kam
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