Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
Sehnsucht nach all den verlorenen Augenblicken, die sie nie mehr teilen würden.
Das, so sagte sie sich, war der Grund, weshalb sie von Frankreich geträumt hatte.
Als Celestina vor dem Gemälde zu ihr stieß, wartete Jemma neugierig auf ihre Reaktion.
Weil ihr der verzückte Ausdruck ihrer Freundin nicht entgangen war, tastete Celestina sich vorsichtig heran. »Er hat was Neues versucht, das kann ich sehen. Und die Stimmung, die er vermittelt, ist heiter.« Doch in Wahrheit fand sie es unordentlich und auf unbefriedigende Weise unvollständig, obwohl sie nicht so weit gehen würde, es zu verdammen, wie die anderen dies taten.
Jemma sagte nichts. Es gab nichts zu sagen. Wenn es Celestina nicht möglich war zu erkennen, wie außerordentlich dieses Werk war, was brachte es dann, sie zu einer anderen Wahrnehmung zu drängen? Jemma hatte gehofft, sie würden den Nachmittag und die Heimreise in fröhlichem Austausch über die Ausstellung verbringen, denn sie hatte eine besondere Einsicht gewonnen: dass nämlich dieses französische Gemälde eine bemerkenswerte Umsetzung von Ruskins drittem Gesetz des Zeichnens darstellte. Mit seinem gefilterten Licht und den sich verschiebenden Schatten und der »transparenten Unendlichkeit des Laubwerks« zeigte es auf, wie man von einer Szene einen allgemeinen Eindruck bekommt, ein Gefühl, dass sie so realistisch wie eine Fotografie ist, doch nicht so präzise oder genau. Und einen immer an all das erinnert, was der Wahrnehmung entgeht, all das, was in den Schatten verborgen bleibt. Eine Lektion darin, wie man sieht, nicht was zu sehen ist.
Jetzt jedoch würde ihre Reise schweigsam verlaufen. Beide würden einem Gespräch über das Gemälde, das in aller Munde war, ausweichen, genauso wie jeglicher Anspielung auf Jemma und deren Gefühle angesichts des erwarteten Kindes.
Daran denkt Jemma, als sie im Park sitzt, ein Park mit schattigen Grotten, wo ein solches Picknick sehr gut vorstellbar wäre. Sie entspannt ihre Augen, sodass einen Moment lang alles zu einem weichen Nebel aus Farbe und Licht verschwimmt. Die am See entlangpromenierenden Leute tauchen in ihr Blickfeld ein und verschwinden wieder. Eine Frau im burgunderfarbenen Taftkleid mit betonter Büste schlendert vorbei und zieht ihr Cape aus, als wolle sie ihre betonten Formen noch vorteilhafter zur Schau stellen. Besucher aus der Heimat machten sich über die leuchtenden Farben der Kolonialmode oft lustig und fanden sie geschmacklos. Aber Jemma kümmerte das nicht. Je mehr Farbe, desto besser. Sie sieht sie dick mit dem Palettenmesser aufgetragen. Als die Frau in den Schatten eines Baums eintaucht, fällt Jemma auf, wie das Blau des Himmels sich auf ihrem Gesicht spiegelt und ihre Gestalt eins wird mit dem Gras, dem See und dem Pfad.
Es gab so viel zu schauen und zu überlegen und zu malen und so wenig Zeit, und ihre Kleider saßen mit jedem Tag enger. Sie muss Ruhe bewahren und darf nie vergessen, dass das außerordentliche Gemälde, wenn sie am Abend die Augen schließt, da sein wird und auf sie wartet, wann immer sie es braucht. Dass sie es immer mit sich herumtragen wird. Wie ein Geschenk.
Und wie ein Geheimnis, das sie mit keinem teilen kann.
16
Morgen für Morgen steigt Marcus O’Brien um sieben Uhr auf den Turm im botanischen Garten und richtet sein Fernglas auf die nördlichen Ausläufer der Stadt. Was er sucht, ist nicht schwer zu finden. Er fokussiert die aus Stein gebaute Milchkammer, wartet, dass Jemma herauskommt und dem Schweizer Bauern hilft, die Kannen auf seinen Karren zu laden. In den letzten Monaten waren ihre Bewegungen immer langsamer geworden, je mehr ihr Bauch unter ihrem Rock anschwoll. Dies ist eine Komplikation, die er nicht vorhergesehen hat. Sie war nicht Teil seines Plans, Teil ihrer Vereinbarung. Aber das kann man Jemma nicht anlasten. Diese Bauern sind wie Tiere, sie wird nicht in der Lage gewesen sein, seinen Forderungen zu entkommen.
Doch trotz aller Entrüstung erregt ihn ihr schwellender Leib. Er malt sich aus, ihren Rock anzuheben, um ihren nackten Bauch zu umfassen, während er sich gewaltsam zwischen ihre Schenkel drängt, um das Kind mit seinem Samen zu überfluten und zu seinem zu machen. Von einem Baum in der Nähe steigt explosionsartig ein Schwarm Papageien auf und erfüllt die Luft mit ihrem Gezeter.
Nach langem Warten erspäht O’Brien nicht Jemma beim Verlassen der Milchkammer, sondern den Bauern. Mit finsterer Miene streckt er seinen rechten Arm in Augenhöhe aus und
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