Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
zielt mit ausgestreckten Fingern auf Gotardos Kopf. Er spannt den Hahn und drückt ab. Nachdem er die Patrone ausgeworfen hat, bläst er den Rauch von seiner Fingerspitze und steckt die imaginäre Waffe wieder ein.
Eines Morgens taucht Jemma nach dem Melken gar nicht auf, auch am nächsten und am übernächsten Tag erscheint sie nicht. Eine Woche vergeht, und Marcus O’Brien beobachtet, wie der Schweizer Bauer allein die Milchkannen auf den Karren lädt. Alarmiert nimmt er seine morgendliche Wache auf dem Feld hinter dem Haus auf. Dort liegt er im hohen Gras und kann, wenn die Hoftür offen steht, die Küche einsehen, wo er schließlich mit ihrem Anblick belohnt wird, als sie mit vor Anstrengung gerötetem Gesicht eine Falltür aus Holz im Boden öffnet und in den darunterliegenden Keller steigt.
Jemma mag keine geschlossenen Räume, aber die Sommerhitze setzt ihr allzu sehr zu. So gern sie im Freien malt, die Helligkeit und die sirrende Luft erträgt sie nicht mehr. Im Licht der Kerosinlampe skizziert sie Flaschen mit hausgemachtem Grappa und eingelegtem Gemüse, Weinfässer und die gewachsten Räder reifenden Käses und ist sich der Verwandtschaft, die sie mit diesen Gefäßen voll brodelnden Lebens teilt, nur allzu schmerzlich bewusst. Je mehr sie sich über das in ihr heranwachsende Leben bewusst wird, umso mehr muss sie über das Geheimnis nachdenken, das ganz gewöhnlichen Dingen innewohnt. In der sie umgebenden Lehmerde atmet sie die feuchten Wurzeln des Seins, hört den in den Fässern gärenden Wein. Manchmal schwört sie, auch feinste Vibrationen zu hören, den fernen Widerhall von Pickeln gegen Fels.
Sie fertigt jeden Tag Skizzen an und malt. Sie arbeitet wie eine Besessene, ist aber mit allem unzufrieden, was sie hervorbringt. Jedes Stillleben, das sie malt, ist eine in sich geschlossene Welt, ein Enigma. Und wenn sie zurücktritt und diese Arbeiten studiert, erstaunt es sie, welche Überfülle und Heiterkeit sie verströmen, und kann kaum glauben, dass ihre Hand sie geschaffen hat. Es ist ihr ein Rätsel, wieso ihre Arbeiten so sehr im Widerspruch zu ihrem inneren Aufruhr stehen: jenem immer stärker werdenden Gefühl, in der Falle zu sitzen, und ihrer Wut auf all jene, die Augenzeugen ihrer Zähmung wurden. Wenn sie in einen Laden kommt, legen die Leute ihre Hände auf ihren Bauch, als wäre sie zum öffentlichen Besitz geworden. Die Frauen erteilen ihr Ratschläge und machen wissende Anspielungen auf das, »was ausgehalten werden muss«, um das Kind auf die Welt zu bringen. Doch jedes Mal, wenn die Tortur des Gebärens zur Sprache kommt, muss Jemma an ihre eigene Mutter denken und bekommt es mit der Angst zu tun.
Sobald Gotardos Karren über den Hügel Richtung Stadt verschwunden ist, macht Marcus O’Brien seinen Zug. Er hat lange genug auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. Ein kleiner Schock wird ihr die Augen für die wahre Natur dieser Bauern öffnen. Wie primitiv und besitzergreifend sie sein können. Und sie, gibt man ihnen nur die Gelegenheit dazu, ihre Frauen einfach wegsperren.
Am späten Vormittag ist es selbst im Keller erdrückend heiß, und die überreifen Käse verströmen einen ranzigen Geruch. Benebelt verlangt es Jemma nach Frischluft. Sie steigt die Leiter hoch und drückt gegen die Falltür, doch sie ist verriegelt. Und das, obwohl sie sich sicher ist, sie offen gelassen zu haben. Offenbar hatte Gotardo sie geschlossen und vergessen, dass sie hier unten war. Erst vor Kurzem, als er aus dem Haus ging, hatten die Dielenbretter unter seinem Gewicht geknarrt. Jetzt aber schweigen die Bretter, offenbar ist er hinaus auf die Weiden oder in die Stadt gegangen.
Sie drückt erneut mit beiden Händen gegen die Falltür, wobei sie einen gefährlichen Balanceakt auf der Leiter vollführt, während sie klopft und ruft. Wieder hört sie es oben knarren. Vielleicht ist Gotardo zurückgekehrt. Sie erneuert ihren Angriff auf die Falltür. Das Knarren hört auf, als stünde jemand direkt über ihr in der Küche, stünde auf der Falltür und lauschte. Sie ruft Gotardos Namen und wartet darauf, dass er ihr die Tür öffnet. Es knarrt noch ein paar Mal, dann Stille. Warum ist er weggegangen? Er wird sie doch rufen gehört haben? Sie überlegt, ob er zornig ist auf sie, sie bestrafen möchte. Aber das ist unmöglich, niemals würde Gotardo etwas derart Grausames tun. Sie muss an den Mordfall in den Zeitungen denken, die McQueen-Frau, die vergewaltigt und ermordet und dann in einem Keller versteckt
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