Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
hellen Tageslicht vorgehen, ihre weit oben fliegenden Feinde aus dem Hinterhalt angreifen, indem sie sich, getarnt im Schatten der Bäume, verstecken. Sie erinnern ihn an Strauchdiebe, die klüger sind, als ihnen guttut.
Die Krähe auf dem Mast krächzt noch einmal, und als sie gerade ihre Flügel hebt, um davonzufliegen, zieht O’Brien seinen American Colt und zielt. Noch bevor er abdrückt, weiß er, dass er zu langsam ist und nicht treffen wird. Der Vogel sucht heftig flatternd und krächzend das Weite, und in dem Moment streift die Kugel seine Flügel. Ein paar Federfetzen schweben durch die Luft zu Boden. Das nächste Mal wird er sie nicht verfehlen.
Bald schon ist der Vogel nur noch ein Punkt in der Ferne. Besäße er die Überlegenheit des Krähenblicks, überlegt O’Brien, hätte er sie inzwischen gefunden. Seine schwarzäugige Jemma Musk. Er ist sich sicher, dass diese schwarzäugigen Krähen ihre Wege kennen. Noch ein weiterer Grund, sie zu hassen. Es kann doch unmöglich sein, dass keiner in der Stadt oder dem sie umgebenden Bezirk sie seit ihrer Flucht gesehen hat. Es gibt nicht den Ansatz einer Spur. Trotzdem ist er überzeugt davon, dass gewisse Leute ihm nicht alles erzählen, was sie wissen.
Obwohl das Dampfmaschinenzeitalter bereits eingeläutet ist, ist Marcus O’Brien bisher nicht in den Sinn gekommen, dass Jemma und Nathaniel, nachdem sie auf dem Pferderücken von hier geflohen waren, ihre Flucht mit anderen Mitteln fortgesetzt haben könnten. Er weiß, dass Jemma eine gute Reiterin ist. Und da Byrne sich in der Gegend hier bestens auskennt, scheint es ihm naheliegend, dass sie sich in einer Höhle oder einem verlassenen Minenschacht verstecken und darauf hoffen, dort von O’Brien nicht entdeckt zu werden. Es sei denn, er kann den Polizeikommissar dazu bringen, ihm mehr Männer und einen schwarzen Fährtenleser zu geben. Aber bis jetzt zählen eine Frau, die der Kindstötung verdächtig ist, und ihr Liebhaber (und möglicherweise Mitverschworener) nicht zu den Verbrechern, die einen derartigen Großeinsatz rechtfertigen, zumal nicht unter den gegebenen Engpässen bei der örtlichen Polizei.
Als er auf dem Friedhof eintrifft, ist noch keiner da. Er bezweifelt zwar, dass Jemma zur Beerdigung erscheinen wird, doch es würde ihn nicht überraschen, wenn sie einen Aussichtspunkt fände, von wo aus sie die Zeremonie beobachten könnte. Er hat am Aussichtsturm im botanischen Garten einen Constable postiert und wandert nun, nachdem er am Friedhofstor vom Pferd gestiegen ist, auf staubigen Pfaden zwischen den Gräbern hindurch und lässt dabei seine Blicke über die Berge der Umgebung schweifen. Neben den chinesischen Gräbern mit ihren Schalen voll frischem Reis kommt er an einem alten, nach Zitrone duftenden Gummibaum vorbei. Die Rinde ist so glatt und aromatisch wie parfümiertes Papier, und er holt, einer Eingebung folgend, sein Taschenmesser heraus. Einen Moment lang ist er versucht, es zu tun, Jemmas Initialen in die Rinde zu schnitzen. In Erinnerung an seine Liebe zu ihr, deren Intensität noch anhält und immer vorhanden sein wird, auch wenn es nicht länger mehr Liebe ist.
Doch statt der Initialen ritzt er ganz zart ihr Gesicht in die Rinde, treibt ihr Bild dann tiefer hinein, betont gewisse Züge und verleiht ihr volle, laszive Lippen. Schließlich ritzt er einen Rahmen darum herum ein und schnitzt darunter das Wort GESUCHT. Lächelnd tritt er zurück. Wozu ist die Liebe gut? Sie hat ihn hilflos gemacht und verspottet, der Hass jedoch verleiht ihm Stärke und Macht. Reinigt seinen Geist. Seit sie mit Byrne geflohen ist, kann er sich nichts mehr vormachen. Sie hat ihn nie geliebt. Sie hat ihn ihrem Vater zuliebe toleriert, und später dann, um ihren Frieden zu haben. Doch er in seiner liebestollen Verblendung hatte geglaubt, ihr etwas zu bedeuten, und ihr alles verziehen. Aber der Mensch kann nur ein gewisses Maß verzeihen. Sie mag sich zwar weigern, seinen Anspruch auf sie anzuerkennen, doch die Regeln des Gesetzes kann sie nicht leugnen, und indem sie sich außerhalb diese stellte, hat sie ihm die absolute Genehmigung erteilt, sie aufzuspüren und so zu bestrafen, wie das Gesetz das vorschreibt.
Aus der Ferne könnte man meinen, eine riesige schwarze Schlange, begleitet von Klagelauten, die nicht von dieser Welt sind, bewege sich langsam über die Straße auf ihn zu. Als sie näher kommt, erkennt O’Brien im Anführer der Prozession den Priester, Vater Rossetti, in seiner langen
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