Sehnsucht und Erfüllung
Vorstellung, dass sich ein vierhundert Pfund schwerer Tiger vor Dr. McKinley versteckte, musste Kelly erneut lächeln.
Auf einmal flog die Hintertür auf, und mit einem Schwall kalter Luft kam Shane Night Wind herein. Sein Hut und sein Regenmantel trieften.
“Oh, das ist ja nett, Dad”, sagte er und zwinkerte Kelly zu. “Du sitzt mit einem hübschen Mädchen gemütlich in der Küche, und ich bin bis auf die Haut durchnässt.”
“Ich war auch draußen. Und Kelly ebenfalls. Sie hat sich auf dem Weg in die Stadt verfahren.”
“So ist es. Schließlich bin ich hier gelandet und wollte mir kurz den Weg beschreiben lassen.”
“Und ich habe sie zu einem Kakao überredet.”
Shane hing seinen Mantel über einen Stuhl. “Ich werde dich in die Stadt fahren, Kelly. Bei diesem Wetter solltest du nicht allein unterwegs sein.”
Was ist dieser Mann nur wieder überbesorgt, dachte sie. Aber sie mochte ihn. “Ich bin aus Ohio. Dort schneit es sogar.”
“Tja, das hier ist Duarte, Texas. Und das ist bekannt für seine heftigen Regenfälle. Stürme sind seltener, aber auch die gibt es.” Er nahm seinen Hut ab. “Zudem kann ich dir bei der Gelegenheit die Stadt zeigen.”
Die Stadt, wie Kelly eine Stunde später lernte, bestand aus der Post, einem Imbiss, einer Bar namens
Two Steps
für Cowboys und einem schäbigen Motel. Der Supermarkt befand sich zwischen einem Waschsalon und einem Drugstore. Die ganze Stadt erstreckte sich entlang des Highways, der zu anderen kleinen Geschäften in anderen kleinen Städten führte. Natürlich lag dazwischen jede Menge unbebautes Texas.
“Wir haben auch einen Arzt”, sagte Shane, als sie in den Supermarkt gingen. “Seine Praxis mit einer kleinen Klinik liegt am Ortsausgang. Alles eher schlicht, aber Doc Lanigan ist ein netter Kerl.”
Der altmodische Supermarkt unterschied sich deutlich von dem, in dem Kelly arbeitete. Es gab nur drei Kassen und keine Scanner. Überhaupt, verglichen mit Duarte kam ihr ihre Heimatstadt wie eine Metropole vor.
Shane schob den Einkaufswagen zum Gewürzregal, weil Kelly Curry kaufen wollte. “Ich sehe leider keinen Curry.”
Vermutlich waren indonesische Gerichte in Duarte nicht populär. “Wie ist es mit Estragon?”
Er überflog das Regal. “Fehlanzeige.”
Sie begnügte sich mit einer Flasche Teriyaki-Sauce. Während sie hin und her gingen, begann ihr Baby zu strampeln, und als sie beruhigend eine Hand auf ihren Bauch legte, wurde sie plötzlich traurig. Wie gern hätte sie solche Momente mit dem Vater ihres Kindes geteilt. Sie sah Shane an. Was würde er tun, wenn eine Frau, die er nicht liebte, von ihm schwanger wäre? Würde er sie heiraten?
“Steak, richtig?”, sagte Shane neben ihr.
“Wie bitte?” Erst jetzt merkte Kelly, dass sie an der Fleischtheke standen und der Schlachter auf ihre Bestellung wartete. “Nein, Geflügel.”
Sie kaufte Hähnchenbrustfilets für zwei und nahm auch noch Heilbutt mit. Abgesehen von den Donuts, die sie bei ihrer Irrfahrt vor Verzweiflung gegessen hatte, und hin und wieder einem Eisbecher, achtete sie sehr auf eine fettarme Ernährung.
“Bono mag auch Geflügel”, meinte Shane im Weitergehen. “Aber mit Federn und allem Drum und Dran.”
Kelly verzog das Gesicht. “Dann werde ich ihn wohl nicht zum Abendessen einladen.” Shane lächelte amüsiert. Es war so leicht, mit ihm zu plaudern und ihn als Freund zu betrachten. “Und wie ist es mit dir?”
Er schob den Wagen zum Gemüsestand. “Ich esse Hähnchen lieber ohne Federn.”
Lachend versetzte sie ihm einen Rippenstoß. “Das war eine Einladung zum Essen heute Abend.”
“Ach so.” Er grinste. “Ja, gern.”
Eine ältere Frau lächelte ihnen zu, schien Shane jedoch nicht zu kennen. Offenbar hielt sie sie für werdende Eltern – glücklich verheiratet, in Erwartung ihres ersten Kindes. Kelly wurde von grenzenloser Traurigkeit ergriffen.
Sie nahm eine Kantalupmelone in die Hand. Sollte sie Shane von Jason erzählen? Ihn nach seiner Meinung zu einer Vaterschaftsklage fragen? Sie drehte die Melone hin und her, ohne sie wirklich zu sehen. In neun Tagen reiste sie ab. Shane würde ihr als Freund nicht ewig zur Verfügung stehen. Sie holte tief Atem. Er hatte ihr einmal gesagt, er könne gut zuhören.
Trotzdem …
Vielleicht sollte sie ihn vorwarnen …
“Bist du eigentlich ein guter Ratgeber?”
“Inwiefern?” Er sah auf die Melone in ihrer Hand. “Ob du eine Kantalupmelone nehmen sollst?” Er tat, als überlege er
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