Sehnsucht
an sich gebunden, um ihre eigenen Bedürfnisse nach Nähe zu befriedigen, und sie hatte niemals das Gefühl gehabt, erwünscht und geliebt zu sein, so wie sie war. Insofern hatten sie beide das gleiche Schicksal gehabt, nur in unterschiedlichen Erscheinungsformen.
Wir haben viel über ihre Kindheiten gesprochen, was sie zuviel und zu wenig bekommen haben, welche Ãngste sie heute bei einem eigenen Kind hätten und wie sie mit ihrem Kind umgehen würden. Beide kannten ihre Kindheitsgeschichten aus ihren Erzählungen, aber den Zusammenhang zwischen ihren aktuellenProblemen, ihrem ambivalenten Kinderwunsch, ihren Machtkonflikten und ihren Sehnsüchten hatten sie so noch nie gesehen. Als sie sich dann gegen ein Kind entschieden hatten und die Frau eine neue Anstellung fand, die sie schon immer haben wollte, wurde sie unerwartet schwanger. Sie hatten darüber gelacht und sich auf das Kind gefreut.
Kinderwunsch als Sehnsucht nach Unsterblichkeit
Ein Kind ist der Ausdruck der Liebe zwischen zwei Menschen und ihrer tiefen Sehnsucht nach Unsterblichkeit. In einem Kind lebt ein Mensch weiter und verewigt sich auf die schönste nur denkbare Weise. Im Kind lebt aber nicht nur der einzelne Mensch weiter, sondern auch eine Liebesbeziehung, eine Partnerschaft und eine Familie. Wer sich gegen ein Kind entscheidet, tut dies meist aus einer inneren Not heraus, es ist weniger eine freie Entscheidung des Willens, so wie es immer wieder dargestellt wird. Die vermeintlichen Gründe gegen ein Kind sind in der Regel im psychologischen Sinne Rationalisierungen, d.h. nachträglich erfundene Scheinbegründungen, um sich nicht mit den Ãngsten der eigenen Seele konfrontieren zu müssen. Diese innere Not will nicht, dass die eigene Person, Partnerschaft, Familie und Geschichte weitergeführt wird. Die gewollte Kinderlosigkeit ist auch eine aktive Absage an die Zukunft aufgrund der eigenen Geschichte und der Adressat sind die Eltern. Die Aussage heiÃt: Meine Kindheit war nicht schön, vielleicht sogar schrecklich und ihr, meine Eltern, wart keine guten Eltern. Und weil ich nicht solch eine Mutter oder solch ein Vater für mein Kind sein will, wie ihr es für mich gewesen seid, beende ich hiermit die Generationenfolge.
Das ist die wahre Begründung für die gewollte Kinderlosigkeit, aber selten ist dies bewusst und kann sich selbst ehrlich eingestanden werden. Besonders schwierig wird dies gegenüberdem Partner, der nicht so empfindet, und sich nichts sehnlicher wünscht als ein Kind. Und gleichzeitig ist da die tiefe Sehnsucht, genau dieses intergenerationelle Wiederholungsmuster durchbrechen zu können, also doch ein besserer Vater oder eine bessere Mutter als die eigene sein zu können. Das ist die andere Seite der Sehnsucht, die eine Ambivalenz, wie sie immer mit dem Kinderwunsch verknüpft ist, noch komplizierter macht, als sie sowieso schon ist. Daher tobt in den Seelen der kinderlosen Menschen, ob gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst, ein langer fürchterlicher Kampf zwischen Angst und Sehnsucht. Diese Angst lässt die Sehnsucht erst entstehen, denn ohne Angst könnten die Menschen sich ihre Wünsche erfüllen. Sehnsucht ist immer der unerfüllte Wunsch, das ungestillte Gefühl, das nicht gelebte Leben.
Eine besondere Variante dieser Sehnsucht aus der Angst heraus entsteht in Liebesbeziehungen, in denen die Partner nicht richtig zusammen, aber auch nicht wirklich getrennt sein können. Dann sind sie vielleicht jahrelang ein Paar und doch wieder nicht, dann leben sie körperlich eine Nähe und empfinden eine innerliche Distanz. Mehr noch: Es entsteht eine Schaukelbeziehung zwischen Nähe und Distanz. Aus der Distanz werden sie durch die Sehnsucht zueinander getrieben, aber sobald diese Nähe zu groà wird, bekommt sie etwas Bedrohliches, dann kommt die Angst vor Verschmelzung oder Autonomieverlust, dann muss die Distanz wiederhergestellt werden. Aber sobald sie wieder entfernt sind, treibt sie die Sehnsucht wieder zueinander, und so geht es in qualvoller Weise immer weiter. So erleben sie die wunderschönsten Momente der Liebe und müssen sie gleichzeitig selbst wieder zerstören, weil sie eine groÃe Angst vor der Liebe haben. Meistens ist es eine alte Angst aus der Kindheit, die sie als Erwachsene immer noch beherrscht. Die Liebe hat das Potential, diese alten Ãngste zu überwinden, aber es hängt nicht nur von der Stärke
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