Sehnsuchtsland
Fenster. Nichts war je in ihrem Leben so schmerzhaft und bitter gewesen wie das gerade erlebte Scheitern. Aber in ihre Trauer und ihre Bestürzung mischten sich auch erste Regungen von Wut. Was war so schlimm an dem, was sie getan hatte? Sie war von zu Hause weggegangen, ja! Aber hatte sie es verdient, dass ihr Vater sie zuerst demütig zu Kreuze kriechen ließ und sie dann dennoch wie eine Schwerverbrecherin behandelte? Welche Art Genugtuung zog er daraus, sie mit solcher Entschiedenheit aus seinem Leben zu streichen?
Die Glasscheibe fühlte sich kalt an auf ihrer Haut, und sie schmeckte die salzige Nässe ihrer Tränen in ihren Mundwinkeln.
Als die Tür hinter ihr wieder aufging, fuhr sie zusammen. »Tut mir Leid, dass ich noch da bin, Papa. Ich bin gleich weg.«
Mit gesenktem Kopf drehte sie sich um, doch nicht ihr Vater hatte den Raum betreten, sondern Henrik. Er hielt ein Bündel Papiere in der Hand und wirkte erstaunt, sie hier zu sehen.
Als er sah, dass sie weinte, eilte er bestürzt auf sie zu und blieb vor ihr stehen. »Was ist passiert?«
Sie schüttelte nur den Kopf, und als hätte er ihr Bedürfnis nach Trost und Nähe gespürt, nahm er sie sofort in seine Arme. Sie klammerte sich an ihm fest und presste ihr Gesicht gegen seine Brust, als könne sie so alles ausblenden, was ihr wehtat.
*
Während der Fahrt zur Hütte redeten sie nicht viel. Henrik warf ihr ab und zu einen Seitenblick zu und fragte sich, was genau Lennart gesagt hatte. Sie schien völlig außer sich zu sein, niedergeschmettert und gleichzeitig zornig.
Auf seinen Vorschlag, im Sommerhaus in Ruhe über alles zu reden, war sie bereitwillig eingegangen, und als sie den Steg entlanggingen und dann zur Terrasse hinaufstiegen, hatte sie sich bereits so weit beruhigt, dass sie wieder lächeln konnte. Besonders glücklich sah sie allerdings nicht dabei aus. Ein Ausdruck von Wehmut und Bitterkeit stand in ihren Augen, als sie über die Bucht blickte und dann langsam den Kopf schüttelte. »Ich hätte nicht herkommen sollen.«
Er drehte sich zu ihr um und schaute sie lange an. Der Wind wehte ihr ein paar Haarsträhnen in die Stirn, und ihre Augen waren dunkel umschattet vor Traurigkeit. Ihr Gesicht war ernst und schön, und in ihrem Blick schien eine stumme Frage zu stehen. Henrik sagte das, was ihm als Erstes in den Sinn kam. »Ich bin froh, dass du da bist.«
Er hob die Hand und fuhr ihr sacht über die Wange. Ihre Haut fühlte sich unter seinen Fingerspitzen an wie warme, glatte Seide. Er wollte noch etwas sagen, etwas Tröstliches, Beruhigendes, irgendetwas, das sie aus ihrer Niedergeschlagenheit riss. Doch dann spürte er die Spannung, die sich schlagartig zwischen ihnen aufbaute. Während seine Finger federleicht auf ihrer Wange lagen, fing sein Puls an zu rasen. In seinem Kopf herrschte mit einem Mal nur noch ein wirres Durcheinander. Sein Herz vollführte einen machtvollen Trommelwirbel, und als seine Blicke die ihren suchten, öffneten sich ihre Lippen leicht, als wolle sie etwa sagen. Doch sie befeuchtete sie stattdessen mit der Zunge, ein Anblick, der Henrik innerhalb eines Sekundenbruchteils auch noch den Rest seines Denkvermögens raubte. Aufstöhnend zog er sie in seine Arme und suchte ihren Mund, um sie ungestüm und mit rasch wachsender Begierde zu küssen. Er fühlte ihre Leidenschaft und ihre Bereitschaft und war selbst so erfüllt von Gefühlen, dass er nicht wusste, was er zuerst tun sollte. Ein urtümlicher Eroberungstrieb zwang ihn, sie hochzuheben und auf seinen Armen in die Hütte zu tragen. Sie lachte verlegen und behauptete, sie sei zu schwer, doch anstelle einer Antwort presste er abermals seinen Mund auf ihre Lippen. Das brachte sie nachhaltig zum Verstummen, und als sie einander nur Sekunden später in fieberhafter Wildheit die Kleidung abstreiften, war die Zeit für Worte ohnehin vorbei. Nur einmal sagte er noch etwas, weil er nicht anders konnte. In ihren Augen stand so viel Verlangen und Liebe, doch dahinter erkannte er auch die Verletzung und die Angst, und er wusste, dass dies die Schatten der Vergangenheit waren. Stammelnd hob er an, es ihr zu erklären, wollte ihr auseinander setzen, warum sie damals keine Chance gehabt hatten, doch das, was er letztlich sagte, konnte nicht richtig zum Ausdruck bringen, was er fühlte.
»Ich verstehe es nicht... Wieso habe ich dich damals nicht aufgehalten?« Er vergrub sein Gesicht zwischen ihren Brüsten und atmete tief ihren Duft ein. »Du bist so wunderbar,
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