Seidel, S: Elfenzeit 16: Bestie von Lyonesse
Elfen besaßen keine Schatten. Dennoch brauchte er einen, um in der Menschenwelt nicht aufzufallen. Also hatte er sich ein halbwegs passendes Exemplar geklaut und es auf magische Weise mehr schlecht als recht an seine Fersen genagelt. Es war tragisch genug, dass der Schatten seinen rechtmäßigen Eigentümer nicht vergessen hatte und noch immer stur wie ein Ochse dessen Konturen nachzeichnete. Aber das erlaubte ihm noch lange nicht, sich einfach zu verdrücken.
»Eine Frechheit ist das!«, murrte Alebin, während er sich ächzend hinsetzte, um den Flüchtling wieder anzunageln. Es ärgerte ihn gewaltig, dass ihm jemand dabei zusah.
Ausgerechnet so ein Dauerschwätzer! Spätestens morgen hat er ganz Cornwall damit behämmert!
Er warf einen düsteren Blick auf Rocky Zwölf. »Ich nehme an, es wäre zwecklos, dich um Stillschweigen über unsere Begegnung zu bitten.«
»Ah!« Die Augen des Steinlings leuchteten auf. »Bist du in geheimer Mission unterwegs?«
»Schon möglich.«
»Worum geht es denn?«
»Wenn ich dir das sagen würde, wäre es wohl nicht mehr geheim, oder?« Alebin vollendete sein magisches Werk und stand auf. Prüfend drehte er sich hin und her. Der Schatten folgte ihm, wenn auch holprig und unter Zwang. Es war bestimmt nur eine optische Täuschung, dass die dunkle Hand am Boden ihren Mittelfinger ausstreckte.
Rocky konnte sein Glück kaum fassen. Ein Elfenspion mit Tarnschatten befand sich im Moor! Wann hatte es das je gegeben? Noch nie, soweit sich der Steinling entsinnen konnte – und er hatte ein sehr langes Gedächtnis.
Danke, Aurelia!
, dachte er und kraulte seinem Geflügel die Halsfedern, dass das Huhn mit einem Schreckensgackern hochfuhr. Es war kurzfristig eingenickt.
Ich werde nie wieder mit dir schimpfen, weil du herumtrödelst. Mann, was hätte ich verpasst, wenn du nicht so faul gewesen wärst!
Eine großartige Story,
das
hätte er verpasst. Die Sensation seines Lebens! Rocky war klar, dass er sofort nach Eintreffen in der alten Zinnmine an die Arbeit gehen musste. Nicht auszudenken, wenn ihm jemand zuvorkäme!
Ein
fremder Klopfer über den rothaarigen Elfen, nur ein einziger, und Rocky stünde als Plagiator da – mit leeren Händen, beschämt und erledigt.
»Wir müssen uns beeilen«, drängte er seinen Begleiter, doch der war schon losgegangen. Rocky hieb Aurelia die Fersen ins Gefieder, um ihn wieder einzuholen. »Die Sonne verschwindet gleich, und das sollten wir auch. Es ist nicht sicher im Moor, wenn die Blaue Stunde beginnt.«
»Die Blaue Stunde?«, wiederholte der Elf lächelnd.
»Ja. Das ist die Zeit zwischen Tag und Traum, wenn der Himmel noch hell ist, aber kein Licht mehr abgibt und Schatten eine blaue Färbung bekommen. In dieser Stunde werden die Grenzen fließend. Da berührt die Anderswelt das Menschenreich.« Rocky runzelte die Stirn. »Komisch, dass du das nicht weißt.«
»Wer hat gesagt, ich wüsste es nicht?« Der Elf blieb stehen. »Hör zu, Steinling. Es war … äh … ganz nett, mit dir zu plaudern. Aber ich will jetzt endlich meine Ruhe haben. Also nimm dein komisches Geflügel und schwirr ab!«
Rocky erschrak. Er wusste noch viel zu wenig über den geheimnisvollen Elfenspion. Im Grunde genommen wusste er … gar nichts!
Wenn ich ihn jetzt aus den Augen verliere, erfahre ich womöglich nie, was hinter seiner Mission im Moor steckt. Das geht nicht. Es wäre wie eine Geschichte, deren Ende fehlt!
Fieberhaft dachte er nach. Was konnte er tun, um den Spion noch eine Weile an sich zu binden? Plötzlich fiel es ihm ein.
»He!«, rief er mit gewinnendem Lächeln. »Was hältst du davon: Ich lade dich ein, bei mir zu übernachten! Es ist sehr gemütlich im
Old Joe
und so sicher! Da kommt keine von den Gestalten hin, die sich hier nach Sonnenuntergang herumtreiben. Wir könnten ein bisschen plaudern, und …«
»Danke, ich habe schon ein Nachtquartier«, fiel ihm der Elf ins Wort.
»Ja, wo denn?«, fragte Rocky erstaunt.
»Whispering Willows«, lautete die knappe Antwort.
Rocky war so baff, dass er an den Zügeln zog. Aurelia gehorchte sofort, hielt an und klappte die Augen zu. Besser ein Sekundenschlaf als gar keiner.
»Whispering Willows!« Der Steinling ächzte. Hätte er gekonnt, wäre er blass geworden. »Das … das ist ein Witz, oder?«
Er bekam keine Antwort, fand aber selber eine. »Oh, ich weiß: Du darfst mir nicht sagen, wo du wirklich hingehst, weil es ja geheim ist!« Rocky lachte erleichtert. »Mann, du hast mich vielleicht erschreckt
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