Seidene Küsse
Schachbrettboden ihrer Küche Pforten zur Hölle waren. Wenn sie drauf träte, würde sie in ein dunkles Loch fallen, aus dem eine krumme haarige Klaue sie nach unten zöge. Also hatte sich Iris angewöhnt, sich durch die Küche zu bewegen, indem sie nur auf die weißen Platten trat. Lange hatte sich Iris auch vor der Dunkelheit gefürchtet. Jedenfalls noch, als sie schon erwachsen war. Immer, wenn sie eine dunkle Wohnung betreten hatte, hatte sie als Allererstes nach dem Lichtschalter getastet. Dann war sie von Raum zu Raum gewandert und hatte überall das Licht angemacht und es die ganze Nacht über (zumindest im Flur) angelassen. Wenn es mal dunkel wurde, während sich Iris in einem Raum ihrer Wohnung aufhielt, traute sie sich nicht mehr aus dem Zimmer. Dann musste sie jemanden anrufen und mit dem Tel efon in der Hand rausgehen und die Lichter anschalten.
Iris hatte Alan auch von ihrer Angst davor erzählt, ihre Sehkraft werde sich so rasant verschlechtern, dass sie eines Tages blind aufwachen würde.
War es schlimmer, gar nicht zu wissen, was zum Beispiel die Farbe Rot war, oder für immer darauf verzichten zu müssen, diese Farbe wieder zu sehen? Vergaß man nach einer Weile, was »rot« bedeutete? Oder waren Informationen wie Farben oder Muster für immer in unser Gedächtnis eingebrannt?
Von Alan wusste Iris, dass er seine erste Liebesnacht als Sechzehnjähriger mit einer mexikanischen Prostituierten verbracht hatte. Seine ausführliche Schilderung hatte sie sehr erregt. Dass er als Sohn eines Diplomaten wie sie alle drei Jahre in einem anderen Land gelebt und die fremden Sprachen ebenso schnell gel ernt hatte wie sie. Und wie Iris liebte Alan die spanische Sprache, die spanische oder lateinamerikanische Mentalität. Manchmal hatte er sich in der Diskothek unbemerkt an sie herangepirscht und ihr spanische Anzüglichkeiten ins Ohr geflüstert. Wenn sie sonntags dort zum Salsa-Tanzen verabredet waren, beobachtete Alan sie immer zuerst aus der Ferne, wartete, bis sie zum ersten Mal mit jemand anderem tanzte, um dann dazwischenzugehen und sie den Rest des Abends nicht mehr loszulassen.
Iris wusste auch, dass Alan von seiner Mutter zur Strafe in die dunkle Besenkammer gesperrt worden war, wenn er etwas angestellt hatte, und dass er sie dafür hasste.
Dunkelheit, wofür das wohl stand? Sie konnte sich nicht mehr erinnern, ob sie in Freuds Abhandlungen etwas darüber gele sen hatte.
Für Alan und Iris war klar, dass sie die letzten Stunden vor Beginn des neuen, ungewis sen Lebensabschnitts gemeinsam verbringen wollten.
Der Pakt zwang sie dazu, sich ausschließlich an öffentlichen Plätzen zu treffen, und nun saßen sie wieder einmal in der frie-si schen Tee stube an die sem unspektakulären, de pri mie rend kleinen Spielplatz. Einer ihrer Lieblingstreffpunkte, nicht nur wegen der ungewöhnlichen Einrichtung, die aus bunt zusammengewürfelten Antiquitäten und Trödel bestand. Diese Teestube war so perfekt, weil hier garantiert niemand verkehrte, den sie kannten. Niemand, der sie in peinliche Situationen bringen, ihren Pakt gefährden konnte.
Nur eine Stunde saßen sie bei Rosentee zusammen auf einem Jugendstil-Sofa, die Hände fest ineinander verschlungen, sich ununterbrochen küssend. Die knisternde Spannung zwischen ihnen war kaum noch zu ertragen. Immer wenn Iris ihn ansah, sah sie sich hier und jetzt die Kleider vom Leib reißen und sich ihm anbieten. Es war besser, wenn sie das hier nicht ausdehnten. Die übrigen, allesamt intellektuell aussehenden Gäste schielten schon ständig pikiert zu ihnen herüber.
»Lass dein Beifahrerfenster einen Spalt offen«, verlangte Alan, schenkte ihr ein wundervoll es Lächeln, warf ihr noch einen gehauchten Kuss zu und verließ als Erster die Teestube. Nun war Iris nicht mehr versucht, schnell aufzuspringen und ihm zu folgen, was anfangs oft ihr Impuls gewesen war.
Zum ersten Mal hatten sie keinen neuen Treffpunkt ausgemacht.
In dieser Nacht konnte Iris vor Aufregung kaum schlafen. Doch anstatt alle fünf Minuten bei ihrem Auto nachzusehen, kostete Iris die quälende und zugleich köstliche Erwartung so lange wie möglich aus. Am Morgen blieb sie im Bett liegen, bis ihr Kreislauf zusammenzubrechen drohte. Ein bisschen unkonzentriert absolviertes Yoga brachte sie wieder in Schwung. Sie badete ausgiebig, rasierte sich die Beine und die Achselhöhlen und entschied, das Gleiche mit ihrer Scham zu tun. Nachdem sie ih ren gesamten schlanken, aber kur ven rei chen Körper
Weitere Kostenlose Bücher