Seilschaft (German Edition)
ungesichert bis an die Kante des Felsabbruchs vortreten, um einen Blick nach unten zu werfen, obwohl es ihn interessierte, wie lang die Abseilstrecke war.
Was soll’s, dafür ist die Ausrüstung da.
Er setzte seinen Rucksack ab, zog seinen Klettergurt an und begann schon mal damit, sich eine Selbstsicherung zu bauen, an der er sich mit einer langen Bandschlinge befestigen würde, um sich ein wenig über den Abgrund lehnen zu können, ohne ein Risiko einzugehen. Einen eingerichteten Stand gab es leider nicht, aber zwei Keile und ein Friend würden es auch tun.
Er friemelte einen Keil in einen kleinen Riss, knotete die Bandschlinge per Ankerstich in seinen Gurt, klippte sie mit einem Schraubkarabiner an den Keil und belastete ihn vorsichtig zur Probe. Na ja. Er griff gerade nach dem zweiten Keil, als ein verdächtiges Knirschen ihn herumfahren ließ. Ihm gefror das Blut in den Adern. Der Block mit den Hörnern bewegte sich.
Der Felsklotz, um den Jason das Seil gelegt hatte, an dem er abseilte, an dem sein Leben hing, war lose.
Krachend und bröckelnd ruckelte er auf die Kante zu. Ein halber Meter noch, dann würde er in den Abgrund rollen, und Jason würde mit ihm in die Tiefe stürzen.
Nico blieben nur wenige Sekunden für seine Entscheidung, aber er brauchte nicht einmal eine.
Er schnappte ein Karabinerpärchen und schnellte vor.
Jason, du blödes, blödes, hirnverbranntes Arschloch ...
Er klinkte den ersten Karabiner in einen der Seilstränge ein, die von dem Block aus zu Jason führten.
Du gottverfluchter Hurensohn! Konnte der Depp nicht besser aufpassen?
Er ließ den zweiten Karabiner in die Schlaufe seines Klettergurts schnappen.
Nun war Jasons Gewicht an seinem Körper befestigt, und er stemmte sich mit aller Kraft zurück – Scheiße, man sollte den Mistkerl auf Diät setzen!
Mit äußerster Gewalt gelang es ihm, die Belastung von dem Felsklotz abzuziehen. Mit einem Steine zermalmenden Knarren schaukelte der Felsturm hin und her, krachte der Länge nach um, rutschte ... und blieb liegen.
Dafür zerrte nun die volle Last an Nico, sehr zum Missvergnügen diverser angeschlagener Körperteile.
Du miese, fette Ratte ...
Sein Gelenk schrie ihn an, seine Muskeln schrien ihn an, sogar sein Hirn schrie ihn an: Wie konnte er solch eine schwachsinnige Entscheidung treffen? – Ja, riskier dein Leben, um den Mann zu retten, der dich hasst, warum nicht –
Er spürte keinen Schmerz in seinem verletzten Fuß, aber die Beine knickten fast ein vor Anstrengung. Die Adern auf der Stirn schwollen bis zum Platzen, das Seil schnitt ihm die Hände blutig, als er daran riss. Schweiß brach aus allen Poren.
Er kämpfte auf Leben und Tod, und Jason, vielleicht nur 15, 20 Meter von ihm entfernt in der Steilwand abseilend, bekam von alledem nicht einmal etwas mit.
Jason baumelte gemächlich am Seil und bildete sich Wunder was ein auf seine Selbstständigkeit, jede Wette.
Nico geriet ins Straucheln. Unaufhaltsam wurde er dem Abgrund entgegengeschleift.
Nico spürte, dass er Jason nicht mehr halten konnte, er rutschte ab – er würde mit Jason in den Tod stürzen, romantisch, irgendwie ...
Ein kurzer Ruck, ein plötzliches Abstoppen.
Richtig, da war ja noch der Keil, an dem Nico sich bereits gesichert hatte, dem Himmel sei Dank! Nico hatte sich gerade wieder festen Stand verschafft und wunderte sich noch, dass der Keil gehalten hatte, als ein leises Ploppen hinter ihm verriet, dass das gute Stück nun doch die Stellung aufgab und aus dem Riss gefallen war.
Nun war er ganz auf sich gestellt, ein zweites Mal durfte er nicht schwach werden. Mit voller Entschlossenheit verschanzte er sich hinter einigen kleineren felsigen Erhebungen, hielt dem Zug stand ... und fiel fast auf den Hintern, als plötzlich das Seil erschlaffte. Jason hatte sicheren Stand erreicht.
Jason war unten. Er war sicher. Kein blutiger Tod, jedenfalls nicht in den nächsten fünf Minuten. Und Nicos Gewissen würde nicht bis ans Ende seines Lebens belastet sein.
Nico seufzte erleichtert und trat jetzt doch ohne Sicherung an die Kante, um herabzusehen.
Jason sah zu ihm auf. Er verzog sein Gesicht in Ärger und Verachtung, drehte sich um und ging auf die Berghütte zu, die man in einiger Entfernung sah, mit Rauch über dem Schornstein, der gemütliche Wärme verhieß.
Nico sah zu, wie Jason kleiner und kleiner wurde. Er machte ihm keinen Vorwurf, war froh, ihn los zu sein. Sie wussten beide, dass Nico es von dieser Stelle aus ohne Zweifel allein
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