Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sein Anteil

Sein Anteil

Titel: Sein Anteil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Wuchold
Vom Netzwerk:
klemmte sich Pia Nikitas Beine unter die Arme und wollte gleich losmarschieren.
    »Warte doch!«
    Willem zog die Tür hinter sich zu und fasste Nikita unter die Achseln. Er kam bei Pias Tempo kaum mit. Immer wieder rutschten seine Hände ab, die Leiche fiel hin. Sie war inzwischen fast steif. Willem stolperte. Auch auf den Treppenabsätzen, wo Willem stets Nikita hinlegte, um seine Kräfte zu sammeln, zerrte Pia weiter an der Leiche, obwohl sie kaum vorankam.
    Nach gut zwanzig Minuten hatten sie ihr Werk vollbracht. Nikita ruhte fünf Stockwerke tiefer sanft im Flur. Pia wäre am liebsten sofort zum Wagen gegangen, hätte Willem sie nicht aufgehalten.
    »Mach erst das Licht aus! Und sieh nach, ob jemand auf der Straße ist.«
    Pia steckte ihren Kopf hinaus.
    »Die Luft ist rein.«
    »Jetzt öffne den Deckel vom Kofferraum!«
    Pia tat, wie ihr befohlen.
    Mit Trippelschritten schleiften sie Nikita vom Flur zum Wagen. Stöhnend hoben sie ihn hoch, erst den Oberkörper, dann die Beine. Rums! Die Leiche sackte in den Kofferraum, der Wagen wippte nach. Nur einen Augenblick später fuhr Willems gelber Mercedes sacht und lieblich in die blaue Nacht hinein.
    Es war kurz nach zehn Uhr abends, als Willem und Pia die New Cavendish Street hinter sich ließen. Ein paar Ecken weiter war noch Leben. Araber kauften Früchte ein oder saßen bei einem Tee oder Kaffee an kleinen Tischen vor grell erleuchteten Läden. Nur Männer waren zu sehen, keine Frauen. Hier herrschte nach wie vor reger Verkehr auf den Straßen, vor allem um Marble Arch herum.
    Willem nahm die Park Lane am Hyde Park entlang, der sich rechts wie ein großes schwarzes Loch vor ihnen auftat. Am Hyde Park Corner wurde es wieder heller. Autos warfen nervös ihre Scheinwerfer in alle Richtungen. Willem fädelte seinen Mercedes in den hektischen Kreis ein, machte eine ganze Umrundung mit, scherte dann links nach Belgravia aus, fuhr mitten in die Stille hinein. Nur das Röhren des Motors durchbrach den fast majestätischen Frieden.
    Im zarten Licht der Laternen wirkten die weißen Stadthäuser mit ihren prachtvollen Eingängen noch vornehmer und verschwiegener als bei Tag. Der Sloane Square lag brach und verlassen da. Selbst die King’s Road, über die vor wenigen Stunden noch die Schönen und Betuchten Londons flaniert waren, schien jetzt, ganz unspektakulär, nur noch ein dunkler Schlauch zu sein.
    Soweit Willem sich entsinnen konnte, hatte sich der Selbstmörder, von dem er im »Evening Standard« gelesen hatte, unweit von Croydon vor den Zug geworfen. Croydon lag im Süden von London. Wie sie dort hingelangen könnten, wusste Willem nicht. Er wollte sich einfach in Richtung Süden begeben. Er verließ deshalb die King’s Road, um über die Battersea Bridge die Themse zu überqueren.
    Auf der anderen Seite des Flusses begann für Willem dunkles Neuland. Abgesehen von ein paar Stippvisiten in Brixton war er noch nie im Südteil Londons gewesen. Die spärlich angebrachten Hinweisschilder trugen Namen, die er bestenfalls vom Hörensagen kannte.
    »Hast du eine Idee, wohin wir fahren müssen?«, fragte Pia ohne echtes Interesse.
    Sie war erschöpft wie Willem und schien die Fahrt durch die Nacht ebenso entspannend zu empfinden wie er – trotz ihrer ungewöhnlichen Fracht, die hinten im Kofferraum auf ihre letzte Bestimmung wartete.
    »Nein, keinen blassen Schimmer«, sagte Willem.
    Er ließ sich weiter von der breiten Straße ins Ungewisse leiten, bog dann links ab, nur weil sich ein Hinweis nach Clapham vertraut anhörte. Rechter Hand öffnete sich die Straße zu einer gespenstisch weiten Fläche, auf der einsam ein paar Bäume standen. Dünnes Licht glimmte dahinter in fernen Häusern, die wie unbewohnte Miniaturen aussahen.
    Willem folgte stur der Route, sah das rote runde Emblem einer U-Bahn-Station mit dem blauen Querbalken, »Clapham Common«, und steuerte den Wagen, da sich die Straße wieder leicht nach Norden neigte, an der nächsten Gabelung südlich weiter. Kein Fußgänger war weit und breit zu sehen, Autos nur wenige. Meistens saßen Farbige am Steuer, die sich, als billige Alternative zu den Londoner Taxis, zu später Stunde als Chauffeure verdingten und ihre Kunden in entlegenen Clubs und Kneipen einsammelten.
    Nach ein paar Kilometern glaubte Willem einige triste Fassaden wieder zu erkennen. Auch war wieder eine Spur von Leben zu sehen. Passanten, Schwarze, auch einige Weiße, liefen unbekümmert durch die Nacht.
    Pia schaute mit gelassener Neugier aus

Weitere Kostenlose Bücher