Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)
Militär, leitet jetzt so was wie ein Abenteuerurlaubscamp in Schottland.«
Jay blieb stehen. Es sah so aus, als würde er die unbezahlbare Aussicht bewundern, aber seine Augen waren auf unendlich gestellt, und seine Lippen umspielte der Anflug eines Lächelns. »Kann nicht sein«, sagte er.
»Was kann nicht sein?«
Aber Jay schwieg ein kurzes Weilchen, und Kosigin hatte nicht vor, ihn noch einmal zu unterbrechen.
»Der Verstorbene hieß Reeve«, sagte Jay endlich. »Ich hätte schon früher darauf kommen sollen.« Er warf den Kopf in den Nacken und lachte laut los. Seine Hände umklammerten dabei allerdings das Geländer, als könnten sie die Metallstange ein paarmal um sich selbst verdrehen. Schließlich starrte er Kosigin mit weit aufgerissenen grünlich-blauen Augen, großen schwarzen Pupillen an. »Ich glaube, ich kenne den Bruder«, sagte er. »Ich glaube, ich hatte vor Jahren mal mit ihm zu tun.« Er lachte wieder und beugte sich tief über das Geländer, so dass es einen Augenblick lang so aussah, als wollte er sich kopfüber in die Bucht stürzen. Seine Füße stießen sich tatsächlich vom Boden ab, landeten dann aber wieder unten. Passanten starrten ihn an.
Ich hab es mit einem Irren zu tun, dachte Kosigin. Schlimmer noch – da ich ihn aus LA herbestellt habe, bin ich momentan sein Auftraggeber. »Sie kennen ihn?«, fragte er. Aber Jay suchte jetzt den Himmel ab, reckte den Kopf hierhin und dorthin. Kosigin wiederholte seine Frage.
Jay lachte noch einmal. »Ich glaube, ich kenne ihn.« Und dann schürzte er die Lippen und fing an zu pfeifen, oder versuchte es zumindest, obwohl er noch immer kicherte. Es war eine Melodie, die Kosigin entfernt bekannt vorkam – ein Kinderlied.
Und dann, an der Uferpromenade von San Diego, von Touristen aus sicherem Abstand beäugt, begann Jay zu singen:
» Row, row, row your boat,
Gently down the stream.
Merrily, merrily, merrily, merrily,
Life is but a dream. «
Er wiederholte die Strophe noch zweimal und verstummte dann plötzlich. Alles Leben, alle Belustigung war aus seinem Gesicht verschwunden. Es war so, als hätte er eine Maske übergestreift, so wie das manche Wrestler taten. Kosigin schluckte und wartete auf weitere Verrücktheiten dieser Art – wartete darauf, dass der Riese etwas sagte.
Jay schluckte und leckte sich die Lippen; dann sagte er ein einziges Wort, und das war »gut«.
Reeve hatte sich ein Taxi kommen lassen. Es hatte ihn von der Verschrottungsfirma zum Bestattungsunternehmen gefahren, wo er in seinen Mietwagen umgestiegen war. Er widerstand der Versuchung, Jim noch ein letztes Mal zu sehen. Jim war nicht mehr da. Da war lediglich eine leere Hülle, in der sein Bruder früher einmal gelebt hatte.
Wieder im Hotel, setzte er sich in seinem Zimmer ans Fenster und dachte nach. Er dachte über den verschwundenen Laptop und die dazugehörigen Disketten nach. Er dachte darüber nach, dass absolut jeder Jims Leichnam im Auto hätte einschließen können. Das konnte einiges bedeuten – oder auch nichts. Der Mexikaner hatte gelogen, aber vielleicht nur, um etwas ganz anderes zu vertuschen, etwas so Triviales wie die mangelhafte Verkehrssicherheit des vermieteten Wagens oder den zweifelhaften Ruf seines Betriebs. Wie auch immer, Cantona beschattete jetzt den Mexikaner. Reeve konnte vorerst nichts anderes tun, als auf seinen Anruf warten.
Er zog den Plastikbeutel aus der Tasche seines Jacketts und schüttete den Inhalt auf den runden Tisch, der vor dem Fenster stand. Jims »Hinterlassenschaften« – das, was man in seinen Taschen gefunden hatte. Die Polizei hatte seine Personalien festgestellt und dann alles dem Bestattungsunternehmer übergeben.
Reeve blätterte Jims Reisepass durch und sah sich, mit Ausnahme des Fotos seines Bruders, alles aufmerksam an. Dann nahm er sich den Geldbeutel vor, ein quadratisches braunes Lederdings, dessen Ecken sich schon vor Alter nach außen rollten. Zwanzig Dollar in Fünfern, Führerschein, ein bisschen Kleingeld. Ein Taschentuch. Eine Nagelzange. Ein Päckchen Kaugummi. Reeve spähte hinein. Es waren noch zwei Streifen drin. Dazwischen war ein zusammengeknülltes Stückchen Papier gestopft worden. Er riss das Päckchen auf, um es herauszubekommen. Es war lediglich das Papierchen eines schon verbrauchten Kaugummistreifens. Aber als er es auseinanderfaltete, stand auf der weißen Seite ein Wort geschrieben.
Das Wort war »Agrippa«.
Der Anruf kam ein paar Stunden später.
»Ich bin’s«, sagte
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