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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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steckengeblieben. Er hätte gern noch mehr gesagt, aber ihm fiel nichts ein. »Vielen Dank.«
    Hester machte sich ebenfalls große Sorgen um Monk, nicht deshalb, weil er irgendwelche Dinge getan haben konnte - damit hatte sie sich überhaupt nicht beschäftigt -, sondern wegen des Ruins, den dieser Skandal über ihn bringen würde, wenn Drusilla ihre Anklage öffentlich machte. Die Tatsache, daß sie nichts beweisen konnte, war unerheblich. Sie hatte Ort und Zeit für ihr Melodrama mit großer Umsicht gewählt. Kein Mann und keine Frau, die von dem Fest in der North Audley Street kamen, würden jemals vergessen, wie sie Hals über Kopf aus dem fahrenden Wagen stürzte, eine Frau mit zerrissenen Kleidern, die laut schrie, daß man über sie hergefallen sei. Was immer ihr Verstand ihnen auch sagen mochte, sie würden die Gefühle dieses Abends noch einmal durchleben, das Entsetzen und die Empörung. Und sie würden niemals akzeptieren, daß man sie übertölpelt hatte. Es würde sie wie Narren erscheinen lassen, und das wäre unerträglich.
    Sie mußte irgend etwas tun, um ihm zu helfen, es mußte etwas Praktisches sein, und es mußte sofort passieren. Es hatte keinen Sinn zu versuchen, den Schaden zu begrenzen, nachdem er einmal angerichtet war.
    Sie und Callandra hatten bis spät in die Nacht in dem kleinen Raum im Krankenhaus von Limehouse darüber gesprochen, in den wenigen Augenblicken, in denen sie einmal nicht arbeiteten oder schliefen. Callandra war zutiefst beunruhigt, selbst im Angesicht des Elends und Todes um sie herum, und Hester begriff mit einer jähen Aufwallung von Freude, wie gern sie Monk haben mußte. Ihre Sorge um ihn entsprang nicht nur ihrem Interesse an seiner Arbeit und der Tatsache, daß er ihrem Leben eine neue Dimension verlieh.
    Aber sie hatte keinen praktischen Rat zu bieten gehabt.
    Jetzt saß Hester in dem warmen und sauberen Schlafzimmer Enids im Haus der Ravensbrooks und beobachtete die zerbrechliche Gestalt, die endlich in friedlichen Schlaf gesunken war. Genevieve war nach Hause gefahren, müde vor Kummer und erfüllt von wachsender Angst und Einsamkeit, die der Verlust von Angus mit sich brachte, und gezeichnet von dem Grauen, mit dem Calebs unmittelbar bevorstehende Verhandlung sie erfüllte.
    Hester räumte ein paar Dinge auf und kehrte dann zu ihrem Platz zurück. Es war alles so anders als noch vor einigen Tagen. Damals hatte Monk keiner größeren Gefahr ins Gesicht geblickt, als einen Fall, der von Anfang an hoffnungslos schien, aufgeben zu müssen. Vor zwei Wochen hatte Enid im Delirium gelegen und um ihr Leben gekämpft. Sie hatte sich von einer Seite zur anderen geworfen und vor Schmerzen gestöhnt, und ihr Geist war in Fieberphantasien umhergeirrt und hatte Vergangenheit und Gegenwart ineinanderfließen lassen.
    Hester mußte unwillkürlich lächeln. Man hörte tatsächlich seltsame Dinge in einem Krankenzimmer. Vielleicht war das einer der Gründe, warum gewisse Leute davor zurückschreckten, Krankenschwestern einzustellen, und statt dessen lieber Kammerzofen mit der Pflege betrauten, die wahrscheinlich ohnehin viele der Geheimnisse ihrer Herrinnen kannten.
    Enid hatte in ihrem Fieber über viele Dinge gesprochen, über bruchstückhafte Gedanken, alte Kümmernisse und Einsamkeit, Sehnsüchte, die sie niemals stillen konnte und denen sie, wenn sie bei Bewußtsein war, vielleicht niemals Ausdruck verliehen hätte. Es waren Angst in ihr gewesen und Ahnungen. Mehr als einmal hatte sie auch von Briefen gesprochen, in denen jemand ganz offen von seiner Liebe sprach. Sie hoffte, daß Enid diese Briefe nicht aufbewahrt hatte. Hester zweifelte sehr stark daran, daß sie von Lord Ravensbrook stammten. Er machte nicht den Eindruck, als könne er sich so freimütig ausdrücken. Er schien ein sehr formeller Mensch zu sein, sehr steif, vor allem, was das Aussprechen von Gefühlen betraf - was natürlich nicht bedeutete, daß seine Gefühle deswegen schwächer waren oder ihr körperlicher Ausdruck nicht genauso heftig war wie der jedes anderen Mannes auch.
    Sie hatte darüber nachgedacht, ob sie Enid darauf ansprechen sollte, um sie davor zu warnen, daß sie, wenn sie krank war, solcher Indiskretionen fähig war. Möglicherweise würde sie auch im Schlaf oder bei einer neuerlichen Fieberkrankheit ähnlich reagieren. Dann hatte Hester jedoch beschlossen, daß Enid eine solche Einmischung vielleicht als Zudringlichkeit empfinden würde und dadurch eine Barriere zwischen ihnen entstehen

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