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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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könnte. Wenn es Enid bisher gelungen war, ihre Ehe vor einem solchen Unheil zu bewahren, dann konnte ihr das in Zukunft auch ohne Hesters Rat gelingen.
    Sie warf noch einmal einen Blick auf Enids schlafende Gestalt. Sie schien ganz ruhig zu sein; ja, auf ihrem Gesicht lag sogar die Spur eines Lächelns, als träume sie etwas Angenehmes.
    Vielleicht dachte sie an einige dieser alten Briefe. Sie schenkten ihr vielleicht noch immer glückliche Erinnerungen an eine Zeit, in der sie wußte, daß sie bewundert wurde, daß jemand sie schön fand. Liebesbriefe waren etwas Seltsames, sie konnten, wenn man sie versteckt hielt, so viel Gutes tun… und in den falschen Händen solchen Schaden anrichten.
    Hester selbst hatte nur sehr wenige solcher Briefe erhalten, und die meisten davon waren formeller Natur gewesen, mehr die Feststellung einer inbrünstigen Hoffnung als erfüllt von wirklichem Verständnis und Liebe. Nur die von Soldaten hatten überhaupt irgendeine Bedeutung gehabt, und diese Briefe waren romantisch, voll tiefer Gefühle, aber in gewisser Weise auch Aufschreie der Verzweiflung und Einsamkeit junger Männer, die weit entfernt von ihrem Zuhause in einem fremden Land und unter schrecklichen Umständen lebten, junge Männer, die dankbar waren für eine sanfte Berührung und ein aufmerksames Ohr, einen Funken Schönheit in diesem Meer von Schmerz und Verlust. Sie hatte diese Briefe als das gesehen, was sie waren, und nicht mehr in sie hineingelesen.
    Sie zuckte vor Verlegenheit zusammen, als sie sich an einen ganz bestimmten Brief erinnerte, der sie vor langer Zeit noch vor dem Ausbruch des Krimkrieges erreicht hatte. Er war von einem jungen Mann gekommen, den ihr Vater für einen sehr akzteptablen Freier gehalten hatte. Der Brief war leidenschaftlich gewesen und ihrer Meinung nach viel zu intim. Die Art Liebe, die sich in diesem Brief ausdrückte, hatte sie entsetzt, denn dieser Mann hatte nicht sie, Hester, gesehen, sondern nur das, was er aus ihr machen konnte. Selbst jetzt noch jagte der Gedanke an diesen Brief ihr einen Schauder des Unbehagens über den Rücken. Danach hatte sie diesen Mann nie wiedersehen wollen.
    Allerdings konnte sie sich noch lebhaft an ihre nächste Begegnung mit ihm erinnern. Es war im Haus ihres Vaters gewesen, beim Abendessen. Ihre Mutter hatte keine Ahnung von ihren Gefühlen gehabt und lächelnd am unteren Ende des Tisches gesessen, hatte sie über Linnen und Kristall ausdruckslos angesehen und optimistische Bemerkungen über häusliches Glück gemacht, während Hester sich innerlich krümmte, ihr Gesicht rot anlief und sie sich von Herzen wünschte, irgendwo anders zu sein. Noch immer glaubte sie, den Blick des unglücklichen jungen Mannes auf sich zu spüren und seine Gedanken zu erahnen, die ihn bei jener Gelegenheit beschäftigt haben mußten. In gewisser Hinsicht war es einer der schlimmsten Abende ihres Lebens gewesen.
    Wenn er nur nicht geschrieben hätte, würde sie nicht so sehr gelitten und ihn vielleicht ganz erträglich gefunden haben. Er war kein unangenehmer Mensch gewesen, recht intelligent und nicht übermäßig arrogant, alles in allem ein durchaus annehmbarer Mann.
    Welch lächerlichen Schaden ein Brief doch anrichten konnte, wenn er die Vertrautheit übertrieb oder zu weit ging.
    Es war so, als erstrahlte der Raum plötzlich in hellem Licht. Natürlich! Das war die Lösung! Vom moralischen Standpunkt aus vielleicht nicht ganz unbedenklich… um ehrlich zu sein, sogar eindeutig fragwürdig. Aber Monk war in einer verzweifelten Lage.
    Das Problem war, an wen sie die Briefe schicken sollte. Es mußten Leute aus Drusillas eigenen gesellschaftlichen Kreisen sein, sonst würden sie kaum die gewünschte Wirkung haben. Und Hester hatte keine Ahnung, aus welchen Leuten sich zur Zeit die bessere Gesellschaft zusammensetzte, denn sie hatte sich schon seit Jahren nicht mehr für dieses Thema interessiert.
    Jetzt jedoch war es plötzlich von größter Wichtigkeit.
    Bei näherem Nachdenken wurde ihr klar, daß Callandra wahrscheinlich nicht mehr darüber wußte als sie. Und wenn sie etwas wußte, dann nur zufällig und nicht, weil sie sich darum bemüht hätte. Wenn sich je eine Frau sowenig darum scherte, wer zur Zeit gesellschaftlich besonders hoch im Kurs stand, wer mit wem dinierte und tanzte, dann war es Callandra Daviot.
    Genevieve hatte keinen Zugang zu diesen gesellschaftlichen Kreisen. Ihr Gatte war ein Geschäftsmann, wenn auch ein sehr respektabler. Aber ein echter

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