Sein Bruder Kain
Dann könnten Sie ihn finden, ihn zu Verstand bringen und nach Hause zurückschicken. Es wäre höchst unerfreulich, aber am Ende würde es auf Dauer keinen Unterschied machen, außer vielleicht im Hinblick auf die Gefühle seiner Frau für ihn. Aber sie ist eine vernünftige Frau. Sie würde darüber hinwegkommen. Und natürlich würde sie diskret sein. Niemand sonst müßte davon erfahren.«
»Aber Sie halten das für unwahrscheinlich, Sir?« Monk war nicht überrascht. Es würde ihm selbst leichterfallen, an diese Lösung zu glauben, wenn es sich um eine andere Frau als Genevieve Stonefield handelte. Aber andererseits kannte er sie überhaupt nicht. Die Warmherzigkeit und Phantasie, die er hinter ihren Augen wähnte, mochten durchaus eine Illusion sein. Und vielleicht war Angus auf der Suche nach der Wirklichkeit von zu Hause fortgegangen.
Ravensbrook verlagerte sein Gewicht. Der Kern des Feuers fiel mit einem Funkenregen in sich zusammen, und die Wärme, die es verströmte, wurde noch deutlicher spürbar. »Das tue ich. Lassen Sie mich ganz offen sein, Mr. Monk. Das ist nicht der rechte Zeitpunkt für Beschönigungen. Ich fürchte, daß ihm etwas Ernstes zugestoßen ist. Er hatte schon seit langem die Gewohnheit, die unerfreulichsten Gegenden des East End unten bei den Docks aufzusuchen… Ide, Limehouse und Blackwall. Wenn er überfallen und ausgeraubt worden ist, könnte er in irgendeiner Gasse liegen, verletzt und bewußtlos. Oder ihm ist noch Schlimmeres zugestoßen.« Seine Stimme wurde leiser.
»Sie werden all Ihr Geschick benötigen, um ihn zu finden.« Er trat einen Schritt vom Feuer zurück, forderte Monk aber immer noch nicht auf, Platz zu nehmen, genausowenig wie er selbst sich setzte.
»Mrs. Stonefield sagt, daß er häufig seinen Zwillingsbruder Caleb besucht habe«, fuhr Monk fort, »der ihrer Aussage nach von ganz anderer Natur ist, der seinen Bruder haßt und von Eifersucht auf ihn erfüllt ist. Sie glaubt, daß er ihren Mann getötet haben könnte.« Er beobachtete Ravensbook aufmerksam. Was er in seinem Gesicht las, waren Furcht und tiefer Schmerz.
Er konnte nicht glauben, daß diese Gefühle nur vorgetäuscht waren.
»Ich bedaure zutiefst, es zugeben zu müssen, Mr. Monk, aber genauso ist es. Ich habe keinen Grund anzunehmen, daß Angus irgendwelche anderen Motive hatte, die ihn in die Elendsviertel am Hafen führten. Ich habe ihn schon lange gebeten, diese Besuche einzustellen und Caleb sich selbst zu überlassen. Es ist völlig vergebens zu hoffen, er könne sich noch ändern. Caleb haßt Angus um dessen Erfolg willen, aber er selbst hat keinen Wunsch, so zu sein wie sein Bruder, er will nur die Früchte von dessen Arbeit ernten. Angus' Zuneigung und Treue werden in keiner Hinsicht erwidert.« Er holte tief Luft und stieß dann einen langen Seufzer aus. »Aber irgend etwas in Angus kann seinen Bruder einfach nicht loslassen.«
Es war ein schmerzliches Thema. Es mußte ganz besonders bitter sein für einen Mann, der die beiden Brüder seit ihrer Kindheit kannte, aber er wich nicht zu Ausflüchten oder Entschuldigungen aus, und Monk bewunderte ihn dafür. Es mußte eiserne Selbstdisziplin erfordern, jetzt nicht in Zorn zu geraten oder über die Ungerechtigkeit des Ganzen zu lamentieren.
»Glauben Sie, daß Mrs. Stonefield recht hat und Caleb Angus tatsächlich getötet haben könnte, entweder absichtlich oder durch einen Unfall während eines Streits?« fragte er.
Ravensbrook sah ihm lange und fest in die Augen.
»Ja«, antwortete er leise. »Ich fürchte, ich halte das für möglich.« Seine Lippen wurden schmal. »Natürlich würde ich lieber an einen Unfall glauben, aber auch Mord wäre denkbar. Es tut mir leid, Mr. Monk. Es ist ein bitterer Fall, mit dem man Sie beauftragt hat, und einer, der Sie möglicherweise auch selbst in Gefahr bringen könnte. Caleb ist nicht leicht zu fassen.« Sein Mund zuckte, aber er brachte kein Lächeln zustande. »Und Sie werden auch nicht so einfach beweisen können, was passiert ist.
Aber wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, brauchen Sie es mich nur wissen zu lassen.«
Monk wollte sich gerade bei ihm bedanken, als es leise an der Tür klopfte.
»Herein!« sagte Ravensbrook überrascht.
Die Tür öffnete sich, und eine Frau von außergewöhnlicher Erscheinung trat ein. Sie war kaum mehr als durchschnittlich groß, obwohl ihre Haltung sie größer erscheinen ließ. Aber es war ihr Gesicht, das Monks Aufmerksamkeit erregte. Sie hatte hohe, breite
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