Sein Bruder Kain
Häubchen bis hin zu ihren schmalen, behandschuhten Händen und den zierlichen Stiefeln. Ihr Gesicht war schön. Ihre großen haselnußbraunen Augen unter den geschwungenen Brauen sahen Monk voller Freude und Hester voller Überraschung an.
»Störe ich Sie bei einer Unterredung mit einer Klientin?« erkundigte sie sich in entschuldigendem Tonfall. »Das tut mir wirklich leid. Ich kann selbstverständlich warten.«
Irgendwie war die Unterstellung, sie könne eine Klientin sein, sehr schmerzlich. Warum hatte die Frau automatisch angenommen, daß Hester keine Freundin Monks sein konnte?
»Nein, ich bin keine Klientin«, sagte Hester schärfer, als es ihr, sobald sie ihre eigene Stimme hörte, lieb war. »Ich habe Mr. Monk aufgesucht, um ihm einige Informationen zu geben, die sich vielleicht als nützlich erweisen könnten.«
»Wie freundlich von Ihnen, Miss…?«
»Latterly«, ergänzte Hester.
»Drusilla Wyndham.« Die Frau stellte sich selbst vor, bevor Monk die Gelegenheit dazu hatte. »Guten Tag.«
Hester starrte sie an. Sie wirkte sehr gelassen, und ihr Benehmen ließ keinen Zweifel daran, daß ihr Besuch, auch wenn sie sich im Augenblick in Monks Büro befanden, privater Natur war. Monk hatte sie nie zuvor erwähnt, aber es stand außer Frage, daß er sie kannte, und alles deutete darauf hin, daß er sie außerdem mochte. Das konnte man an seinem Gesichtsausdruck erkennen, an der Art, wie er dastand, mit gestrafften Schultern und dem leisen Lächeln, das um seine Lippen spielte, im Gegensatz zu dem harten Blick, der bis zu Drusillas Erscheinen in seinen Augen gestanden hatte.
Vielleicht kannte er sie von früher? Sie schien sich völlig ungezwungen in seiner Gesellschaft zu fühlen. Hester spürte, wie ihr Magen sich plötzlich zusammenkrampfte, als stürze sie ins Bodenlose. Natürlich mußte er in der Vergangenheit Frauen gekannt und wahrscheinlich auch geliebt haben. Um Himmels willen! Es war nicht einmal ausgeschlossen, daß er eine Ehefrau hatte! Konnte ein Mann so etwas vergessen? Wenn er wirklich geliebt hatte…?
Aber wäre Monk überhaupt in der Lage gewesen, irgend jemanden zu lieben? Hatte er die Fähigkeit zu uneingeschränkter und absoluter Liebe in sich, die Fähigkeit, sein Leben mit einem anderen Menschen zu teilen?
Ja. Für ein paar Augenblicke in jenem geschlossenen Raum in Edinburgh hatte er diese Fähigkeit bewiesen. Diese kurze Zeit war ihr kostbar wie ein leuchtender Stern in ihrer Erinnerung. Und doch tat sie auch weh, denn sie konnte sie nicht vergessen oder einfach beiseite schieben. Sie konnte nie mehr so an ihn denken, wie sie es früher getan hatte, ihm seinen Zorn und seine Kälte nie mehr ganz glauben, und vor allem konnte sie sich selbst nicht mehr einreden, daß es nichts an ihm gab, was sie wirklich begehrt hätte.
Drusilla Wyndham unterbrach ihre Unterhaltung mit Monk und hatte sich nun wieder zu Hester umgewandt, um sie mit ihren schönen, großen Augen fragend anzusehen.
»Wäre es Ihnen lieber, ich würde draußen warten, während Sie Ihre Unterhaltung hier beenden, Miss Latterly?« erkundigte sie sich höflich. »Ich möchte mich nicht aufdrängen oder Sie von Ihren weiteren Plänen für diesen Abend, die Sie gewiß haben, abhalten. Ich bin sicher, daß Sie Freunde haben, die Sie noch besuchen wollen, oder eine Familie, die auf Sie wartet.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Und es war auch eine sehr eindeutige Art, sie darauf hinzuweisen, daß sie nun gehen könne.
Hester spürte, wie sich ihr der Hals zuschnürte und ihre Schultern sich vor Verbitterung und Zorn verkrampften. Wie konnte diese Frau es wagen, sich so zu verhalten, als hätte sie irgendeinen Besitzanspruch auf Monk? Hester kannte ihn viel besser, als die andere Frau ihn je kennen würde. Sie hatte Seite an Seite mit ihm verzweifelte Kämpfe durchgestanden, hatte Hoffnung und Mut mit ihm geteilt, Mitleid und Furcht, Sieg und Niederlage. Sie hatten nebeneinander gestanden, als Ehre und Leben in Gefahr waren. Drusilla Wyndham wußte nichts von alldem!
Aber sie konnte alle möglichen anderen Dinge wissen. Vielleicht konnte sie Monk sogar etwas über seine Vergangenheit erzählen? Und wenn Hester ihn liebte - nein, das war absurd! Wenn sie eine wahre Freundin war, ein ehrenwerter Mensch, konnte sie nicht den Wunsch haben, ihm das vorzuenthalten.
»Natürlich«, sagte sie kalt. »Aber es besteht kein Grund dafür, daß Sie sich zurückziehen, Miss Wyndham. Alles Vertrauliche ist bereits gesagt
Weitere Kostenlose Bücher