Sein eigen Fleisch und Blut: Thriller (German Edition)
wo es diese kleinen Gassen und Wege gibt. Wenn er es war, könnte er inzwischen überall und nirgends sein.«
Quinn fluchte leise. »Okay, schicken Sie Gail zu ihr und lassen Sie Miss McCorkindale eine Tasse Tee bringen. Vielleicht erinnert sie sich am Ende an etwas, das sie nicht in der Zeitung gelesen hat.«
Das Weihnachtskonzert Carols by Candlelight wurde seinem Ruf als eines der herausragenden Kulturereignisse des Jahres überaus gerecht. Colin Anderson war verzaubert; von den Kostümen, den Kerzen, dem Spektakel, der wundervollen Musik, den stimmgewaltigen Sängern und dem Vergnügen zuzuschauen, wenn etwas sehr Schwieriges aufgeführt wird und dabei ganz leicht wirkt.
Am meisten freute er sich jedoch über die Frau, die neben ihm saß. Helena trug ihr Lieblingskleid aus dunkelgrünem Samt, der sich wie eine Spirale von Schulter zu Schulter schlang. Um den blassen, dünnen Hals trug sie eine teure cremefarbene Perlenkette. Wenn er genau hinschaute, entdeckte er die ersten feinen Falten auf ihrer Haut, winzige Runzeln, die tiefer oder flacher wurden, je nachdem, wie sie den Kopf bewegte. Grüner Lidschatten betonte das Katzenhafte ihrer Augen, und erste Anzeichen von Krähenfüßen zeigten sich, wenn sie lachte, was sie häufig tat.
Er war ganz gerührt, als sie sich für ihre Verspätung entschuldigte; er verriet ihr nicht, dass er draußen in der Kälte gestanden und gedacht hatte, es würde den passenden Abschluss eines schrecklichen Tages bilden, wenn sie ihn versetzen würde. Überrascht hatte er zur Kenntnis genommen, wie erleichtert er war, als sie schließlich atemlos und umso attraktiver mit wallendem Mantel um die Ecke bog. Und genauso überrascht war er gewesen, dass er keinerlei Schuldgefühle empfand, als er sich von Claire, die auf dem Weg in die Disco war, winkend verabschiedete und Brenda und Peter hinterherschaute, als sie zum deutschen Weihnachtsmarkt aufbrachen. Und er war zudem überrascht, weil er keinen Gedanken mehr an die Arbeit verschwendete. Immerhin hatte er mit Brenda telefoniert, nachdem sie auf dem deutschen Weihnachtsmarkt angekommen war, und hatte schreien müssen, um die bayerische Volksmusik und den Schuhplattler zu übertönen. Er mahnte sie, gut auf Peter aufzupassen. Sie sagte, sie sei auf dem Weg zurück zum Wagen, und teilte ihm unmissverständlich mit, dass sie sehr wohl in der Lage sei, auf ihren Sohn aufzupassen. Colin bat sie, mit ihm zu sprechen, doch da hatte Brenda bereits aufgelegt.
Nach einer Weile bemerkte er, dass er Helena viel mehr Beachtung schenkte als den Darstellern auf der Bühne. Dann sah sie ihn plötzlich an, weil es auch ihr aufgefallen war. Gefällt es Ihnen?, fragte sie stumm, indem sie nur die Lippen bewegte.
Er nickte. Mozart kam in Hofkleidung und mit einem Kandelaber in der Hand auf die Bühne.
Ihm schnürte sich die Kehle zusammen. Er schloss die Augen und ließ sich von den wunderbaren Klängen einlullen. Ja, es gefiel ihm wirklich. Und so langsam fiel der Stress von ihm ab. Er näherte sich gefährlich dem Schlaf.
Er spürte einen Rippenstoß. Helena blickte unverwandt auf Mozart und grinste schwach.
Vollkommen unerwartet kam eine große Dudelsackkapelle von hinten in den Saal, marschierte gleichzeitig durch alle Gänge nach vorn und schmetterte »The Flower of Scotland«, woraufhin sich nach und nach Gelächter im Publikum ausbreitete, als die Zuschauer sahen, dass die Musiker statt des Sporrans, der beschlagenen Felltasche, einen Squidgy trugen. Sie marschierten auf die Bühne, stellten sich dort in Reihen auf und spielten ein Medley aus Weihnachtsliedern. Dann zogen sie unter tosendem Applaus wieder nach draußen. Die erste Programmhälfte war vorüber.
Draußen im Foyer staunte Colin darüber, welche Stellung Helena in dieser Gesellschaft einnahm. Sie kannte praktisch jeden. »Das ist Colin Anderson«, stellte sie ihn allen vor, mit denen sie sprach. »Er war ein guter Freund von Alan.« Und sie fügte im Flüsterton hinzu: »Seine Frau hat ihn mir für den heutigen Abend ausgeborgt.« Ausnahmsweise war er einmal froh, wie ein Polizist auszusehen.
Helena warf mit Luftküssen und Grüßen, kurzen Floskeln und winkenden Händen nur so um sich. Plötzlich jedoch schien sie genug zu haben.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir die zweite Hälfte ausfallen lassen? Ich glaube, für heute habe ich genug. O Gott«, sagte sie unvermittelt und versteckte sich hinter einer Säule. »Haben Sie den Mann da drüben gesehen?« Colin
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