Seine einzige Versuchung
nicht sofort Rede und Antwort stehen zu müssen. Da das Wetter schon recht mild und freundlich war, bestand durchaus die Möglichkeit, dass der Hintereingang zur Küche offenstand. Martha ließ die Tür gerne geöffnet, um frische Luft während ihrer oft schweißtreibenden Arbeit in die Küche zu lassen. Elli hatte Glück - die Tür war in der Tat offen und Martha saß alleine am großen Tisch, wo sie gerade in einem Kochbuch stöberte und hochschreckte, als sie die Schritte hörte:
„Elli! Ich wusste gar nicht, dass Du heute kommst. Das muss ein Versehen sein - Deine Eltern sind doch gar nicht da! Aber wie siehst Du denn aus? Du bist ja ganz aufgelöst! Was ist denn nur los? Komm‘ mal her, mein Mädchen.“ Sie bewegte ihren schweren Körper auf Elli zu, die ihr auf halbem Weg entgegen stürzte und sich in ihre Arme warf. Vom Weinen geschüttelt ließ sie endlich alle Beherrschung von sich abfallen, die sie so lange aufrechterhalten hatte. Sie war nicht in der Lage zu sprechen. Marthas untrügerischer Instinkt ließ sie sogleich das Richtige vermuten:
„Ist es wegen Deinem Mann?“ Elli nickte.
„Diese ganzen Kerle können einem doch gestohlen bleiben - nichts als Ärger hat man mit denen, obwohl ich bei Deinem dachte… naja, so kann man sich täuschen. Hat er Dich etwa geschlagen?!“, erkundigte sie sich entrüstet. Unter Schluchzen brachte Elli einige halbwegs klare Worte zustande, mit denen sie ihn zu Marthas Verwirrung sogar in Schutz nahm:
„Nein, das würde er niemals tun… Es ist alles viel komplizierter…“
„Also, das musst Du mir alles genauer erklären. Setz‘ Dich doch erst mal. Ich gebe Dir ein feuchtes Tuch für Dein Gesicht.“ Sie wollte ein sauberes Küchenhandtuch mit kaltem Wasser tränken, als sie von Elli unterbrochen wurde:
„Meine Koffer…“
„Welche Koffer?“
„Sie sind noch draußen bei Paulsen in der Kutsche. Ich muss ihm noch Bescheid sagen.“ Schon wollte sie sich erheben, aber Martha wies sie an, sitzen zu bleiben. Sie würde sich darum kümmern. Ellis Worte beunruhigten sie zutiefst. Hier lag kein alltäglicher Ehestreit vor. Es musste schon etwas Gravierendes geschehen sein, bevor Elli sich zu einem solchen Schritt durchrang, der womöglich einen gesellschaftlichen Skandal nach sich ziehen würde.
„Du hast ihn verlassen ?“ Wieder konnte Elli nur nicken. Die Tränen wollten nicht versiegen. Martha handelte dennoch ganz praktisch, wie es ihrer Art entsprach:
„Ich sage jetzt dem Kutscher Bescheid, dass er Deine Sachen bringen soll, und dann erzählst Du mir alles von Anfang an!“ Als sie keine Kutsche vor dem Haus sah, dachte sie zuerst, der Kutscher sei schon wieder abgefahren, doch dann entdeckte sie Paulsen, der schon unruhig geworden war, da Elli nicht zurückkam. Er stand vor dem Tor, das zur Einfahrt des Hauses führte und schien sich nicht recht zu trauen, hineinzugehen. Angesichts des Ernstes der Lage dachte er sich, dass sie gute Gründe haben würde, ihn so weit vom Haus entfernt anhalten zu lassen. Als nun endlich jemand auf ihn zukam, war er erleichtert. Etwas unbehaglich trat er von einem Fuß auf den anderen:
„Is‘ Frau von Benthin wohlbehalten einjetroffen?“, erkundigte er sich vorsichtig.
„Ja, Sie können vorfahren und ihr Gepäck hereinbringen. Sagen Sie mal - ganz unter uns - wissen Sie, was da vorgefallen ist?“ Der Kutscher erschien Martha vertrauenswürdig genug, um ihm diese Frage zu stellen.
„Nüscht jenaues weeß ma‘ nich‘, aber - janz unter uns - meen Eindruck is‘, dass bei den beeden schon länger dicke Luft herrscht, und keena macht ma‘ den Mund oof für son reinijendes Jewitter. Dit macht‘et alles immer noch schlimmer, aber sajen‘se dit ma‘ den jungen Leuten! Und jetz‘ halt ick lieba ma‘ meene Klappe und erledije meene Arbeit. Wolln‘se dit Stück mitfah‘n?“ Angesichts ihrer Leibesfülle erschien ihm der Vorschlag durchaus angemessen. Aber er hatte Marthas Wendigkeit unterschätzt.
„Fahren Sie nur alleine vor, ich bin wahrscheinlich schneller wieder im Haus als Sie an der Tür läuten können!“
„Zu Befehl, Madame!“, neckte Paulsen sie und eilte in Richtung der Kutsche, die noch etwas weiter vom Tor entfernt stand.
Nachdem Martha Ellis Koffer von Paulsen entgegen genommen hatte, ging sie zurück in die Küche. Elli saß immer noch zusammengesunken auf dem Stuhl und versuchte, ihr verweintes Gesicht mit dem feuchten Tuch zu kühlen. Sie war kaum ruhiger geworden. Ihre viel zu
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