Seine einzige Versuchung
kaum sein.“ Frau van Haalen war entzückt:
„Ach, dies ist Ihre Hochzeitsreise? Und da kommen sie an unsere stürmische Küste anstatt nach Südeuropa zu reisen? Das ist wirklich ungewöhnlich.“
„Mein Cousin hat hier ein Haus, das er aber nur selten bewohnt. Das hat er uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt“, erklärte Benthin. Frau van Haalens Begeisterung war grenzenlos, als sich im nun folgenden Gespräch herausstellte, dass sie Benthins Vetter und dessen Frau kannte, ebenso deren Haus, das am Stadtrand lag und somit näher zum Strand als ihr eigenes. Sie wohnte mit ihrem Mann Joseph van Haalen schon seit über zwanzig Jahren in einer Stadtvilla unweit der Maschinenfabrik, die ihr Mann damals aufgebaut hatte. Ihre Kinder waren längst aus dem Haus, und Frau van Haalen hätte ein etwas kleineres Haus am Stadtrand dem großen Gebäude im Zentrum vorgezogen. Andererseits war es unabdingbar, dass ihr Mann in Reichweite seiner Fabrik blieb, um auch während seiner knapp bemessenen freien Zeit schnell eingreifen zu können, falls etwas Unvorhergesehenes passierte. Im Nu war eine halbe Stunde verstrichen, in der sich die beiden Frauen angeregt über das Arbeitspensum ihrer Männer ausließen. Benthin gab es nach anfänglichem Protest auf, die beiden davon zu überzeugen, er werde seine Arbeitswut zukünftig im Zaum halten und widmete sich wieder Artras, der ihn bereits schwanzwedelnd umwarb, ihm weitere Streicheleinheiten zukommen zu lassen. Wie sich herausstellte, bestand - ähnlich wie für Elli - Frau van Haalens Tagesablauf nicht darin, die sehnsuchtsvoll auf die Rückkehr des Ehemannes wartende Gattin zu spielen. Ihre Anstrengungen bezogen sich auf die angemessene Ausbildung der Kinder der Fabrikarbeiter ihres Mannes. Das Ehepaar van Haalen spielte in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle. Im Gegensatz zu den weit verbreiteten katastrophalen Lebensbedingungen für einfache Arbeiter und deren Familien hatten sie es sich zum Ziel gesetzt, in ihrem Unternehmen einen anderen Weg zu beschreiten und dennoch profitabel zu sein. Sie wollten beweisen, dass ein pfleglicher Umgang mit den Bedürfnissen der Mitarbeiter und deren vernünftige Entlohnung dem Unternehmen zugute kam. Kinderarbeit, die nach wie vor weit verbreitet war, lehnten sie rigoros ab. Stattdessen hatte Frau van Haalen mit Hilfe ihres Mannes und einiger Unterstützer ihrer Ideen eine werkseigene Schule gegründet, die die Kinder der Mitarbeiter kostenlos besuchen durften. Das Modell hatte sich als so erfolgreich erwiesen, dass die Schule bereits erweitert werden musste und auch Kinder anderer Arbeiterfamilien hier unterrichtet wurden, die nicht dem Betrieb angehörten. Ähnlich wie in Ellis Tätigkeit war man auch hier auf Spenden angewiesen, um deren Beschaffung Frau van Haalen sich neben anderen organisatorischen Aufgaben an der Schule kümmerte. Elli war begeistert, auf eine Gleichgesinnte gestoßen zu sein. Benthin drückte ebenso beeindruckt seine Achtung für die fortschrittlichen Maßnahmen des Ehepaares aus.
„Wie spät ist es eigentlich?“, wollte Frau von Haalen wissen. Benthin zuckte mit den Schultern:
„Ich habe keine Ahnung - meine Uhr habe ich im Haus liegen gelassen. Wir leben hier zurzeit einfach nur in den Tag hinein.“
„Beneidenswert! Ich kann mich kaum noch erinnern, wann mein Mann und ich mehr als drei Tage am Stück wirklich frei hatten. Es gibt ständig so viel zu tun…“ Elli versuchte, sie zu aufzumuntern:
„Ich denke, hier lässt es sich auch mit vielen Verpflichtungen gut aushalten. In so einer herrlichen Umgebung erscheint mir alles ein wenig leichter zu bewältigen, oder sehe ich das zu sehr aus der Perspektive des Urlaubers?“ Marie van Haalen musste ihr beipflichten:
„Da liegen Sie schon richtig, und wir lieben unsere kleine Stadt am Meer wirklich sehr.“ Mit einem Augenzwinkern fügte sie hinzu: „Ein bisschen Jammern gehört ja bei Unternehmern bekanntlich dazu. Ich muss jetzt aber wirklich los, obwohl es mir schwerfällt, mich loszureißen. Ich würde vorschlagen, Sie besuchen meinen Mann und mich einfach am nächsten Sonntagnachmittag auf eine Tasse Tee - dann sind wir eigentlich immer zu Hause.“ Benthin musste etwas erstaunt ausgesehen haben angesichts ihrer spontanen Einladung, was der aufmerksamen Gesprächspartnerin nicht entging: „Bitte verzeihen Sie mir diesen Überfall. Es ist eigentlich nicht meine Art, Menschen, die ich kaum kenne, derart unvermittelt einzuladen, und doch habe
Weitere Kostenlose Bücher